Innocent sprach ein Machtwort. Seit er sich aus dem Anwaltsleben ein paar Schritte zurückgezogen hat, spricht er öfters Machtworte.
Meistens zu mir. Es ist ihm dann mächtig langweilig. Also lässt er den Mach(t)o bei mir raus: «Du musst endlich LOSLASSEN!»
«Du musst» ist sein meistbenutzter Imperativ.
Ich schaue mich in meinem Zimmerchen um. Es hat architektonisch die Form eines Dreiersargs. Anders hätte man die Sache mit dem kleinen Dachfenster bautechnisch nicht lösen können.
Innocent lebt unter einer Riesenkuppel, die extra für ihn gebaut wurde – dies nur so nebenbei. Seine Umgebung ist päpstlich weiss. Kalt. Nur Drähte hängen herum. Man könnte meinen, es sind vergessene Kleiderbügel aus der Schnellreinigung. ABER ES IST KUNST. Muss ich noch mehr sagen?
O.k. Mein Sargzimmerchen quellt über. Ich kann nichts wegwerfen. Und mein Auge erfreut sich an dem Sammelsurium, das die Reinmachefrau Annick «das Chaos» nennt. Ich bin ihr «Cauchemar» im Chaos. Wir haben ein gutes Leben zusammen.
Natürlich ist es kein Leichtes, jeden Tag Porzellanfigürchen, Blechfrösche und plüschige Teddybären zu entstauben. Deshalb dreckelt es auch ein bisschen. «Ich bin für das Reinigen eines simplen Haushalts angestellt worden. Und nicht für das Entsorgen einer Müllhalde…», hat Annick den alten Macho heissgemacht. Der warf sich drei Blutdruckpillen rein. Und war dann doch ganz oben an der Decke: «Jetzt gib diesen Schutt endlich weg… wir sind hier nicht der Trödel!»
Und dann eine Stufe sanfter, als er meine Tränen sah (damit kriege ich ihn auch heute noch rum – ist ganz einfach: Luft anhalten… Augen rot reiben… und losflennen!): «DU MUSST ENDLICH LOSLASSEN!»
Ich schaue mich tränend um. Und was ich sehe, macht mir den Tag, das Leben: viel Zerbrechliches aus Jahrzehnten. Die blassblauen Likörgläschen von Tante Gertrude, aus der sie jeweils Malaga schlürfte, bis sich ihr persönlicher Promille-Geschmack beim Appenzeller eingependelt hatte. Die chinesische Vase (Grossmutter, Mutterseite), die mein Vater stets «die Gifturne» nannte. Ein altes Gebiss der Kembserweg-Omi (bei dem schon meine gute Mutter stets ins Hyperventilieren kam), das ich mit Stoff-Gänseblümchen garniert habe. Und «Mimmi», die rosige Sparsau, die nie gefüttert wurde. Und dennoch über sechs Jahrzehnte durchhielt.
ABER HALLO – DAS SIND NICHT EINFACH RAMSCHDINGE. DAS SIND GESCHICHTEN.
UND GESCHICHTEN KANN MAN NICHT IN DIE ABFALLMULDE WERFEN. LOSLASSEN HIN, LOSLASSEN HER!
«Die Sparsau darf bleiben – der Rest muss weg!», sagte nun Innocent streng. «Ich lasse eine Mulde vorfahren…» Annick schaute mich an. Sah die Tränen. Und fiel ebenfalls drauf rein: «Nun ja – wir können es ja im Keller verstauen…», meinte sie.
ABER IM KELLER SIND ALL DIE ALTEN WEINFLASCHEN, DIE INNOCENT NIE WEGGEGEBEN HAT. ER KANN DA NICHT LOSLASSEN. UND SO IST AUS BILLIGEM WEIN GUTER ESSIG GEWORDEN.
«Das ist etwas anderes…», sagt er, wenn ich diesbezüglich Bemerkungen hochfahre.
Es ist immer «etwas anderes». Nicht nur bei Innocent. Im ganzen Leben kommt das so: Jeder sieht die Dinge auf seine Art. Und da wären wir wieder bei meinem alten Ramsch, der mir mehr bedeutet als nur «Staubfänger» (Annick) oder «greller Kitsch» (mein lieber Freund). «Wir könnten damit auf den Flohmarkt gehen …», versucht es Annick jetzt im Guten. Ich habe ihr auf Weihnachten einen automatischen Fleischwolf geschenkt. SO ETWAS VERGISST MAN NICHT. Deshalb. «Ich helfe dir und werde auch keine Extrastunden aufschreiben!» Also gingen wir an einem Samstagmorgen auf diesen Platz vor der Universität, wo in aller Herrgottsfrühe Menschen mit allerlei Krimskrams anfahren. Sie stellen den Schrott auf Decken oder Campingtischchen. Und hängen den Erinnerungen nach. Statt Tischchen hatten wir alte Harassen bei uns. So richtige Apfelkisten aus Holz. Und die wollte einer auch sofort kaufen. Ging natürlich nicht. Worauf hätten wir sonst die Teddybären, Porzellan- engelchen und Likörgläser ausstellen sollen.
«Ich mache eine Kellerbar auf – da wären die ideal! Ein Fünfliber pro Stück», offerierte der Mann. «Pack dich!», fauchte Annick. Und drapierte die Gartenzwergsammlung nach Grössen, Mützen und Bärten.
Ich hielt wieder die Luft an, rieb die Augen und schluchzte: «Ich kann das nicht … du musst das alleine durchziehen. Schliesslich gehts hier ja um deinen Staub!»
Sie seufzte: «Na gut – verpiss dich. Und bring mir dann einen Kaffee. Es ist nass. Kalt. Und windig. Du weisst, was das für meine Blase bedeute …»
SO GENAU WILL ICH DAS GAR NICHT WISSEN.
Ein Spaziergang über den Flohmarkt hat etwas Zauberhaftes. An allen Ecken und Enden stehen Erinnerungen. Alte Kaffeekannen erzählen Geschichten von ihren abgeschlagenen Schnäbeln. Einäugige Puppen flehen um dein Erbarmen. Und da ist auch dieser hölzerne Drehapparat, um den die Omi stets die lose Sockenwolle drapiert hatte und der sich wie ein Karussell drehte, wenn sie den Wollfaden zur Kugel aufwand.
«Wo ist mein Kaffee?», fauchte Annick nach zwei Stunden. Sie war mies drauf. Keiner wollte meine Erinnerungen haben. Einer interessierte sich zwar für den hüpfenden Blechfrosch. Doch als Annick dafür einen Zwanziger wollte, machte er gleich auf Herzkrise. «Steck ihn dir in den Arsch!», fauchte die Putzerin. Damit war auch diese Chance auf Entsorgung vertan.
Natürlich hatte ich ihren Kaffee vergessen. Dafür schleppte ich anderes an: den hölzernen Wollwinder, eine Eule als Rauchverzehrer (genau denselben, den Tante Lilli immer hatte) und zwei Kisten Weihnachtsschmuck. Bei Weihnachtsschmuck kann ich nie Nein sagen – auch wenn er keine Geschichte hat.
«DAS GLAUB ICH JETZT ABER NICHT!», brüllte die gute Seele los. Ich sofort wieder: Luft anhalte … Augen rot reibe … schluchzen.
Da stand dann auch wieder der Mann mit der Kellerbar: «Zehn Stutz ist mein letztes Angebot!»
«Na also!», sagte Annick.
Wir verpackten meine Erinnerungen in Tücher. Und legten sie wieder ins Auto zurück.
Für das Kistengeld hat Annick einen Kaffee und Apfelkuchen bekommen – ich habe im letzten Moment noch einen Plüschschimpansen entdeckt.
(So einen hatte mir Onkel Alphonse mal am Portiunkula-Markt in Dornach rausgeschossen…)