Als Elise vermisst wurde, geriet das ganze Dorf in Aufregung.
Panik!
Und Flora, ihre Mutter, die seit Jahren an schweren Depressionen litt, sass weiss wie ihre Kuhmilch, die sie jeden Abend in Aluminiumkübeln zur Zentralmolkerei brachte («d Miuchi», sagte man der) – Flora also sass unter Schock und kalkbleich auf der Holzbank vor dem Haus.
Die Frau mit dem geblümten Kopftuch, welches das etwas filzige blondsträhnige Haar vergeblich zu kaschieren versuchte, zupfte nervös an den Fingern ihrer heruntergeschafften Hände und wiegte den Kopf leise hin und her. Sie jammerte in diesem monotonen Singsang, den ich später immer wieder bei den Totenweibern auf unserer Toskana-Insel an Bestattungen hören sollte: «S Elischi isch nümme daa… s Elischi isch nümme daa…»
Ich war damals kaum zwölf Jahre alt. Und ich erinnere mich an den Dorfpolizisten Allenbach in seiner schwarzen Hose mit den blutroten Seitenstreifen. Der Mann trug einen breiten, braunen Gürtel. Die Schnalle war ein Berner Bär, der über das Schweizerkreuz spazierte. Und sein Kittel war mit ebensolchen Silberknöpfen bestückt. Na ja – jedenfalls war ich hin und weg. Erstens verkörperte «Allebachs Housi» so etwas wie GEBALLTE Männlichkeit. Und zweitens hätte ich auch gerne schwarze Hosen mit blutroten Seitenstreifen gehabt. (Vom Bären über dem Schweizerkreuz gar nicht erst zu reden…) Elise – oder eben «s Elischi», wie es von allen gerufen wurde – war ein Kind, von dem unsere Adelbodner Nachbarn immer nur «das arme Chrüfi» sagten. Sie steckten dem Mädchen mitunter ein klebriges Caramelbonbon zu. Oder auch mal ein «Schlüüferli», dieses verschlungene, frittierte Gebäck, das vorwiegend um die Fasnachtszeit oder an Verlobungen aus der zischenden, gesottenen Butter gefischt wurde.
Mit neun Lenzen nahm mich meine Mutter erstmals zu Elise mit: «Es wirkt etwas kurios… es kann nicht reden … und du wirst es zu Beginn vielleicht seltsam finden… aber schau dir seine Augen an. Und du verstehst alles… Kinder wie Elise sehen die Welt anders. Schöner. Fröhlicher. Spannender…»
Elise war damals fünf Jahre älter als ich. In einem viel zu grossen Schürzenrock sass es vor dem Bauernhaus auf dem Holzbock, auf dem sonst sein Vater wuchtige Baumklötze mit der Axt zu Brennholz klein machte. Es lutschte an einem Stein. Und streckte ihn mir strahlend entgegen: «Mmmmm…»
«IGITT», sagte ich zu meiner Mutter. Ich war schon damals ein sensibles Tuntchen, das nicht gerne abgelutschte Steine mit Elise teilen wollte.
Mutter streichelte das Mädchen über seine blonden Zöpfe. Und zauberte ein Stück Schokolade aus der Tasche: «Das ist besser, Elise – versuch mal!»
Während Elise gierig das Süssrippchen in den Mund schob und bald schon braun zu sabbern begann, schmollte ich. WIE KONNTE SIE DIESEM GRÄSSLICHEN BALG VON M E I N E R SCHOKOLADE GEBEN!
Aber Mutter nahm mich an der Hand: «Du musst teilen im Leben …dafür wird Elise jetzt mit dir zu den Blumen gehen!»
Das Mädchen umarmte mich mit einem gurrenden Jauchzer. Dann spazierten wir zum Kuonisbergli.
Elise brabbelte auf dem ganzen Spaziergang Unverständliches vor sich hin. Aber ihre Augen lachten immer – ein Lachen, das wärmer machte, als die Sonne über den Hügeln.
Wir liefen immer weiter. Schliesslich bog Elise vom Bergweg zu einer Waldschneise ab. Und dann streckte es die Arme aus, als wolle es den lieben Gott und seine Welt umarmen.
«Dluuu … dlooo … dluuu», machte es aufgeregt. Und zeigte auf ein Stück Moosboden, wo die wunderschönsten Blumen wuchsen – Blumen, wie ich sie noch nie gesehen hatte: winzige Veilchen, zitternde Stiefmütterchen, kaum grösser als ein Daumennagel, flussgrüne Orchideen, goldfunkelnde Butter- blumenkugeln…
«Pfffft!» – Elise legte den Zeigefinger an den Mund. Ich wusste nicht, ob ich still sein sollte – oder ob der Ort ein Geheimnis zwischen ihr und mir sein würde.
Elise bückte sich. Pflückte eines der winzigen Veilchen: «DLAAA!» Strahlend streckte es mir die Blume zu.
ES WAR DIE ERSTE BLUME, DIE ICH IN MEINEM LEBEN GESCHENKT BEKAM.
Im Chalet stellte ich das Veilchen in ein Schnapsglas. Und Mutter erklärte mir, was es mit der Downsyndrom-Krankheit und Elise auf sich habe: «Irgendwie sind diese Menschen eine Bereicherung in dieser Welt. Sie haben eine Symmetrie mehr geschenkt bekommen … und sie sehen all diese Dinge, an denen wir abgestumpft vorbeileben…»
Elise wurde eine gute Freundin. Sie zeichnete mir die wunderschönsten Regenbögen auf meine Geburtstage – ganz einfach, weil sie begriffen hatte, dass ich diese Farben liebte.
Unseren geheimen kleinen «Blumenplatz» erlebte ich in jeder Jahreszeit anders – im Herbst zeigte er Pilze in den verschiedensten Formen. Im Winter glitzerten die Eiskristalle in den kleinen Sumpflachen. Und im Frühling war es, als hätte eine Fee die Waldschneise mit einem grünen Pinsel betupft.
«ICH WEISS, WO ELISE IST», sagte ich zu Allenbachs Housi. Und nahm den Polizisten bei der Hand: «Wenn wir sie finden, schenkst du mir einen Uniformknopf?!»
Es war bereits später Abend, als wir Elise auf «unserer» Wiese sahen. Sie wiegte einen toten Vogel in den Armen. Ihre Tränen tropften auf den goldgelben Schnabel der schwarzen Bergdohle…
«Chumm, Elischi», sagte der Polizist. Mit seinen Händen schaufelte er ein kleines Grab aus. Wir betteten die Dohle hinein. Elise legte drei Veilchen aufs Vogelgrab.
Ein Jahr später war auch Elise tot. «S isch besser für das arme Chrüfi…», sagten die Leute im Bergdorf.
Ich wusste es besser: Es wäre so wunderbar gewesen, noch lange in Elises eigener Welt mitleben zu dürfen.
PS. Ach so – als ich vor zwei Tagen die Nähschachtel meiner Tante Gertrude aussortierte, fiel mir der silberne Knopf mit dem Bären auf dem Schweizerkreuz in die Hände. DESHALB DIESE GESCHICHTE.