Klar. Es war ein Tick von ihr. Immer an Silvester knöpfte Tante Milli ihre Bluse auf. Und zeigte ihren Bauchnabel. «Knubbelt ihn ruhig mal …das bringt Glück», rief sie gut gelaunt in die Festrunde.
Einige schauten geniert weg. Andere gierig hin. Und meine liebe Mutter zischte zu ihrem Gatten: «Und dafür habe ich nun 250 belegte Brote gestrichen!»
«Aber Lotti!»
«ISSDOCHWAHR! JEDES JAHR ZIEHT SIE DIESELBE NUMMER DURCH. DIE GEHÖRT DOCH IN DIE KLAPSE!»
Das mit dem Nabel – so wusste es die Kembserweg-Omi in ihren Neujahrsbriefen – die Show mit dem Zeige-Nabel also brachte meiner Tante Milli bereits im Kindergarten einen gewissen Ruf.
«Sie hat es wieder getan!», riefen die Kleinen bei der Kindergarten-Tante. Und schon musste Milli in der Ecke stehen: «Milli… Milli… das wird einmal ein böses Ende nehmen. Was soll nur aus dir werden…»
«…eine heissse SSStripper-SSuuuse», lispelte Milli neben dem Besenschrank.
Das Wort Stripper-Suse hatte sie von Onkel Alphonse. Er war unser aller Lieblingsonkel. Schon früh – «allzu früh», sagten die andern – hatte Alphonse uns Kindern beigebracht, wie man Präservative mit Wasser füllt. Und sie vom dritten Stock runter aufs Trottoir wirft.
«ATTACKE!» – brüllte der alte Hallodri.
Schon knallte es vor den Absätzen der alten Gygax. Das Wasser spritzte ihr unter den Rock. Da lag sie auch schon ohnmächtig und flundernflach auf dem Trottoir. Bei der Mieterversammlung entschuldigte Alphonse dann den halben Herzinfarkt mit «ach, es sind doch Kinder!»
«KINDER MIT AMERIKANISCHEN PARISERN!», japste die Gygax. «ICH KÖNNTE TOT SEIN … MEIN PULS JAGTE AUF 350 … UND DIESER TROTTEL HIER SAGT: DAS SIND NUR KINDER! ...KILLER-BESTIEN SIND DAS!» Die Gygax war ausser Rand und Band.
Doch zurück zum Nabel von Milli. Wenn andere Kinder bei der Frage «Was willst du denn werden, liebes Mädchen?» irgendwelches dummes Zeug schmalzten, nur um bei der Verwandtschaft einen Zweifränkler rauszustemmen: «Krankenschwester oder Nonne – lieber Onkel», da kam Milli immer gleich zur Sache: «SSSSSTRIPPERIN!»
Sie hatte etwas scharfe «S». Aber das machte die Sache nur noch heisser. Jedenfalls hyperventilierten die Onkels und tupften sich die Glatzen mit ihren Poschettentüchern trocken.
Selbst die Kembserweg-Omi, die allerlei Kummer gewohnt war und diesen mit dem typischen Humor der Arbeiterklasse buckelte, indem sie auch schon mal keuchend vor Lachen zwei, drei fahren liess … selbst der Kembserweg-Omi gingen die Berufswünsche ihrer Tochter doch etwas zu schräg in die falsche Richtung: «Aber Milli, du weisst doch nicht einmal, was eine Stripperin ist…!»
Milli zupfte an der Bluse. Zeigte den Nabel. Und präzisierte: «Das hier ist erst der Anfang … dann fällt der ganze Rest. Und am Schluss bekommst du viel Geld zugesteckt … Onkel Alphonse hat es in Paris gesehen!»
Onkel Alphonse war in jenen Jahren der Einzige in der Familie, welcher es bis über den Grenzort Huningue-le-Haut hinaus geschafft hatte. Er wurde deshalb für seine Nächsten zum Nabel der Welt. Sozusagen.
Mit Milli wurde es arg. «Zeig den Nabel … zeig den Nabel!», schrien die Mitschülerinnen in der höheren Töchterrealschule. So wundervoll animiert zupfte das Mädchen dann die Bluse aus der Junte. Prompt stand der Rektor im Zimmer. Und sah das kleine Loch mit dem schrumpeligen Rest der Nabelschnur.
Heute kräht natürlich kein Hahn mehr nach so etwas. An Tagen wie jetzt trägt jeder und jede dieselbe Nabel-Stelle tätowiert, mit Brillantsamen gespickt oder mit seltsamen Kügelchen gepierct zur Schau.
ABER DAMALS WAR DIE ZEIT DES TURNENDEN KNORRLIS IN DEN HAFERFLOCKENPAKETEN UND DAMENBINDEN ZUM AUSWASCHEN. Muss ich noch mehr sagen?
Kurz – der Rektor, ohnehin ein Sauerampfer mit Mundgeruch, spickte Milli aus der Schule. Und die Kembserweg-Omi nahm sich Alphonse zur Brust. «Das ist alles deine Schuld, du Arsch! Jetzt schau gefälligst, dass aus dem Mädchen etwas Rechtes wird…»
Und so wurde Milli Sozialhelferin für noch schlimmere Fälle. Später, weil sie ihr Wissen so gut weitergeben konnte, mutierte der Status «Lehrerin» zur «Professorin an der Fachhochschule». Auf ihrer Visitenkarte stand: «Prof. Milli – Expertin für soziale Nabelschau».
Wenn es Alphonse auch bis über Huningue- le-Haut gebracht hatte, so war Milli zumindest die einzige Professorin im Dunstkreis der Kembserweg-Omi.
Milli war bei ihren Studenten sehr beliebt, nicht aber bei ihren Kollegen, die sie bei der jährlichen Bewertungsrunde ähnlich taxierten wie die EU-Länder einen Schweizer Teilnehmer beim Europäischen Gesangs-Contest: zero Points! Etwas gekränkt über so viel Neid der Mitprofessoren klopfte Milli beim Frauenkloster von Bad Ischl an. FAND EINLASS. UND FRIEDEN BEIM BESTICKEN VON ALTAR-BÄNDERN. Sie war ganz stark in Lilienmotiven.
Da es ein weltlicher Orden war, konnte Milli aber an Silvester immer die Familie beehren. Meine Mutter strich belegte Brote. Und den Rest kennt ihr ja…
Ich besuchte auf die letzten Monate hin meine Tante in Bad Ischl, wo sie seit Jahren von ihren Mitnonnen liebevoll gepflegt wurde. Sie lag im Bett. Und ihr Gesicht war gezeichnet. Es zeigte jedoch diese wunderbare Fröhlichkeit, die ganz aus ihrem Herzen und tief vom Bauch kam: «Willst du ihn noch einmal sehen?», flüsterte sie.
«Danke Milli», sagte ich. Und küsste ihre Runzelbäckchen, «lassen wir ihn in Frieden ruhen…»
Sie lachte heiser auf. Und tat den letzten Atemzug.
Sie hat zwar nie den Nobelpreis bekommen – aber für den Nabelpreis wär sie eine vielversprechende Kandidatin gewesen.