Die weisse Kutsche

Sie mochte Silvester nicht.

Anna öffnete das Fenster.

Sie schaute auf den Platz mit der Kathedrale aus rostfarbenem Sandstein.

Leute standen in Gruppen herum. Lachten. ­Sangen Lieder. Und machten Lärm.

Die meisten trugen Sektflaschen unter dem Arm. Und warteten auf den Zwölf-Uhr-Schlag. Sie ­warteten darauf, dass alles Miese, Traurige, Schlechte mit dem Sterben des alten Jahrs ­ausgelöscht wird. Ähnlich wie beim Computer mit der DELETE-Taste. Oder – zu Annas Tagen – mit dem weissen Radiergummi, der Fehler korrigieren konnte.

Die Zeit hatte Anna gelehrt, dass die Fehler eines Lebens nicht wegradiert werden können. Und auch eine DELETE-Taste nichts nützt. Die Fehler wurden wie die Minus-Kolonne beim Bankauszug ins nächste Jahr übertragen.

Annas Kindheitserinnerungen an die ­Silvesternacht waren von einer weissen Kutsche geprägt. Irma, die ledige Tante der Familie, hatte ihr erzählt, dass das neue Jahr in einem weissen ­Pferdewagen Einzug halte. Und das alte Jahr als schwarz gekleideter Greis darin davonfahre.

Stundenlang hatte die kleine Anna an den ­Fensterscheiben die Nase platt gedrückt. Und auf die Kutsche gewartet. Bis ihre Mutter sie in die Arme nahm und ihrer Schwägerin einen scharfen Blick zuwarf: «Erzähl dem Kind keine Märchen. Es soll in der Realität aufwachsen …»

Anna meinte dann über den Türmen der ­Kathedrale eine riesige Kutsche zu entdecken. Eine schöne junge Frau in weissem Kleid hielt die Zügel. Und neben ihr hockte ein ­verhutzelter alter Mann im schwarzen Umhang. Er trug etwas in der Hand, das Anna nicht ­ausmachen konnte …

«Ich habe das alte Jahr wegfahren sehen …», erzählte sie es aufgeregt der Familie, die sich am ­Buffet mit belegten Broten bediente.

«Da siehst du, was du angerichtet hast …», ­massregelte die Mutter ihre Schwägerin.

Die Sache mit der Kutsche wiederholte sich 30 Jahre später. Sie hatte sich so sehr eine ­Pferdekutsche für ihre Hochzeit gewünscht. Schneeweiss.

Keiner hatte geglaubt, dass Anna noch einen Mann angeln würde. Sie war immerhin 39.

Als sie vor der Kirche eine halbe Stunde auf den Bräutigam gewartet hatte, fuhr die Kutsche leer davon.

Ihr Neffe hatte ihr dann aus den Ferien einen ­Wiener Miniatur-Fiaker mitgebracht. Billiger ­Plastik. «Zum Trost, Tantchen», streichelte er ihre Hände.

Auch ein billiger Trost. Auf der Kutsche stand «Gruss aus Wien».

Sie blieb ledig. Wurde steinalt. Aber immerhin konnte sie noch alleine in ihrer Wohnung vis-à-vis der Kathedrale leben.

Jahr für Jahr wartete sie in der Silvesternacht auf die weisse Kutsche mit der schönen Frau und dem alten Mann …

Die Leute schrien nun auf. Kreischten. Raketen explodierten. Und die Turmuhr schlug zum ­letzten Mal im alten Jahr.

Da sah Anna die Kutsche. Sie war wunderschön. Und sie strahlte, als wäre sie mit Millionen von Sternen geschmückt.

Der alte Mann sass alleine darin. Er winkte Anna zu. Dabei rutschte sein langer Mantel etwas weg. Und sie sah, dass er eine Sense bei sich trug.

Als der Neffe die Wohnung räumte, hielt er für einen kurzen Augenblick die kleine Kutsche in den Fingern. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. «WIEN … das war vor einem halben Jahrhundert!»

Dann warf er die Erinnerung mit all den andern Sachen in die Abfallsäcke. DELETE quasi.

«Sie hatte ein schönes Alter», hatten die Leute an der Beerdigung genickt.

Keiner sagte: «Sie hatte ein schönes Leben!»

Montag, 29. Dezember 2014