Der silberne Stern

Illustration Rebekka Heeb

Nagano hielt ihre Kinder fest in den Armen.

Vor vier Stunden hatte das alte Schiff an der nordafrikanischen Küste abgelegt. Drei Wochen lang war sie mit Amur und Sagal auf der Flucht gewesen. Ihren Mann hatte man im Bürgerkrieg von Somalia erbarmungslos vor ihren Augen erschossen.

Nagano verkaufte allen ihren Schmuck – ausser das Amulett mit dem silbernen Stern, den sie von ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt be­­kommen hatte.

«Ob Allah, Buddha oder der Gott der Christen – jemand wird in schlimmen Zeiten immer über die Familie wachen. Der Stern ist das Gute», hatte die alte Barni zu ihr gesagt.

Mit dem Schmuckgeld hatte Nagano sich die Flucht aus Somalia erkauft. Ihr Schwager Geedi lebte schon seit einigen Jahren auf dieser andern Seite der Erde, wo es den ­Menschen besser ging. Manchmal hatte er Nagano Geld geschickt – und seine Adresse in dieser kleinen Stadt, in der er lebte, war ihr Glaube auf eine gute Zukunft.

Nun hatte sie keine Hoffnung mehr. Das Schiff schaukelte wie eine Nussschale im plötzlich aufgekommenen Sturm. Das Wasser krachte über Bord. In Sekundenschnelle füllte es das Boot. Die rund 300 Leute gerieten in Panik – sie schrien, schlugen in blinder Angst um sich.

Nagano zog die dünne Kette mit dem silbernen Stern über den Kopf ihres Sohnes: «Amur – pass gut auf Sagal auf. Der Stern wacht immer über euch, so wie ich stets über euch wachen werde – selbst wenn ich nicht mehr bei euch bin.»

Ein Knall liess das Schiff auseinanderbrechen. Amur riss Sagal mit sich – er klammerte sich an ein grosses Stück vom Schiffsboden, das in den Wellen auftanzte.

Eine Stunde später zog die Hafenpolizei von Lampedusa die beiden ­Kinder an Bord.

Nagano aber war im Schwarz des Meeres verschwunden.

* * *

Es war der 24. Dezember. Mittag. Von den Radiostationen düdelten Weihnachtsmelodien. In der Stadt herrschte ein Hin und Her wie in einem Bienenhaus. Die Jingle-Bells-Glöckchen schrien sich die Batterien aus dem Leib. Und im grossen Zimmer von Hermine Landolt hatte das Personal Plastik-­Tannenästchen und Staniol-Sternen­girlanden aufgehängt.

Hermine schaute ihre Freundin bitter an: «Du weisst gar nicht, wie mir das in diesem Altersheim stinkt, Agi. Okay, sie sagen dem heute zwar vornehm Seniorenresidenz. Aber alt ist alt. Und Heim bleibt Heim. Eigentlich ist es nichts anderes als ein Ort mit geschminkten Mumien, die auf den Rollator gestützt durch den Speisesaal schwanken, um ihren Pudding reinzuziehen. Härteres verkraften ihre Drittbeisser eh nicht mehr.»

«Hermine!» – Agi protestierte empört. Und auch etwas schuldbewusst. Sie war es gewesen, die ihre Freundin zum Eintritt ins Alten-Hotel überredet hatte. Entsprechend tätschelte sie ihr jetzt begütigend die Hand: «Sei doch froh. Alles wird für dich erledigt. Toilette und Dusche gleich neben dem Bett. Also wirklich – du solltest etwas dankbarer sein!»

«Dankbar!?» – knurrte Hermine, «dankbar bin ich nur für meinen weisen Entschluss, meine Wohnung behalten und das Haus nicht verkauft zu haben.»

* * *

Klar, es war Hermine immer schwerer gefallen, mitten in der Nacht aufzustehen und die sechs Stufen zum Zwischenstock im Hausgang zu meistern. Ihr Haus in Kleinhüningen war nun mal eine alte Bude. Kein Luxus. Entsprechend hatte sie die drei Wohnungen ohne Bad und mit den Toiletten auf dem Zwischenboden auch nur noch an Studenten vermieten können – doch mit der Zeit sind auch die weggeblieben.

«Wir haben uns immer am Wasserhahnen gewaschen», versuchte Hermine die Jungmannschaft zu überzeugen.

Doch die wollten Duschen. Und Warmwasser. «Warmduscher-Generation!», knurrte Hermine.

So blieb die Hütte in Kleinhüningen leer. Bis auf Hermine. Und ihren Kater Josef.

Eines Tages hatte Agi sie hierher in diesen teuren Käfig für graue Panther geschleppt. Hermine hatte murrend unterschrieben. Aber den Häusermakler, der ihr das alte Haus abkaufen wollte, hatte sie zum Teufel geschickt. Und nur das Nötigste in ihr neues Heim gezügelt.

Ein kleiner Trost: Amur und Segal würden zu den Blumen schauen. Und immer am Wochenende sollten die beiden Kinder Hermine nach Kleinhüningen heimbringen – damit sie den Kater streicheln konnte.

«Nicht einmal Josef haben sie mir hier erlaubt», wetterte sie nun wieder zu Agi.

Es klopfte an der Türe. Und die Augen von Hermine leuchteten auf: «Amur … Sagal! Wie lieb von euch, mich für den Heiligen Abend abzuholen!»

Die beiden Kinder stürmten auf Hermine zu: «Josef kann es schon kaum erwarten … er weiss genau, dass du ihm ein Geschenk mitbringst … Katzen sind schlau.»

«Gehen wir!», lachte Agi. Und zeigte auf eine Tasche mit verschiedenen Päckchen. «Josef soll schliesslich nicht alleine ein Geschenk bekommen.»

* * *

Geedi wartete in Hermines Wohnung auf die Gesellschaft. Vor einigen Tagen hatte er dem Weihnachtsbaumverkäufer beim Kronenplatz die grösste Tanne abgeschwatzt. Das Ganze sollte eine Überraschung werden.

Natürlich hatte er für die Kinder nie einen Baum gemacht. Als sie vor drei Jahren mit einer Rot-Kreuz-Schwester einfach vor seiner Haustüre gestanden hatten, war dies ein Schock gewesen – dann eine Riesenfreude. Aber auch Trauer um die verlorene Schwägerin.

«Wir werden Nagano auf unsere Suchliste nehmen», hatte die Rot-Kreuz- Angestellte versprochen. Und ein bisschen Trost und Hoffnung zurück- gelassen.

Die Kinder hatten sich schnell in Kleinhüningen eingewöhnt. Es gab hier mehrere Migranten aus Somalia, viele Nationen aus Afrika – und alle fühlten sich gut.

Frau Kaller, die Lehrerin, lobte Amur und Sagal bei ihrem Onkel: «Sie sind sehr aufgeweckt … und blitzgescheit … sie werden sich schnell eingewöhnen!»

Tatsächlich redeten die Kleinen bereits nach vier Monaten problemlos die Sprache des Rheinknies. Und sie freundeten sich mit all den Leuten an, die hier wohnten. So auch mit der alten Hermine.

Die hatte einen Narren an den Kindern gefressen. Und lud sie samt ihrem Onkel immer wieder in ihr altes Haus ein.

Als Hermine in die Altersresidenz einzog, waren die Kleinen traurig. Nur die Aufgabe, zu Josef zu schauen und die Blumen giessen zu dürfen, tröstete sie.

«Wir wollen Hermine eine Weihnachtsüberraschung bereiten», damit hatten sie ihren Onkel während der Adventszeit immer wieder gelöchert. «Sie hat uns erzählt, wie sie früher einen Lichterbaum hatte … mit Kugeln, Vögeln, Sternen … er muss wunderschön gewesen sein … wie aus dem Märchenland … wir wollen ihr so einen Baum schenken.»

Der Onkel war nicht begeistert – aber die Kinder fanden in Hermines Freundin eine Verbündete: «Ich finde die Idee grossartig», strahlte Agi. «Ich werde wieder einmal Anisbrötli und Mailänderli backen. Ganz wie früher, als wir immer bei Hermine den Heiligen Abend verbracht haben … und ich werde Ihnen helfen, den Baum zu schmücken.»

Sie gab Geedi einen sanften Rippenstoss. «Hallo Onkel – jetzt tun Sie nicht so, machen Sie den Kindern die Freude...!» Ihre Augen blitzten: «… und Hermine auch. Weihnachten ist die Zeit, da jeder dem andern eine Freude bereiten sollte.»

Also hatte Geedi den Baum besorgt. Agi brachte einen Ständer aus ihrer Wohnung. Die beiden duzten sich jetzt. Und Agi staunte, wie fachgerecht der schwarze Mann den Stamm zurechtstutzte: Heee – du bist geschickt, Geedi!»

Er schaute von den Ästen auf: «Ich bin Handwerker, Agi – ich könnte dieses Haus ganz alleine umbauen: Wir unterteilen die Küche. Und Hermine hätte ein Badezimmer und die Toilette.»

«Geedi!» – Agi schaute den Mann lange an: «Geedi – mir kommt da eine Idee …»

* * *

Einige Tage später durften die Kinder beim Schmücken der Tanne helfen. Agi hatte die vielen, vergilbten Kartonschachteln von Hermines Estrich geholt. Nun brachen die Kleinen immer wieder in einen Jubelschrei aus: «Schau diesen Glaspapagei, Agi … die haben wir bei uns lebendig … und diese verzuckerten Kugeln … die sind so schön. Die kommen bestimmt aus dem Geisterland.»

Amur hielt einen Moment den Atem an – dann flüsterte er: «Und diese Sterne hier … es sind dieselben Sterne, wie ich sie auf Mamas Amulett habe … denkst du wirklich, sie wacht jetzt über uns?»

Sorgfältig schälte er einen der silbernen Glassterne aus dem Seiden- papier.

Agi hatte Tränen in den Augen: «Ganz bestimmt, Amur; man muss im Leben stets an das Gute glauben – besonders an Weihnachten, dann gehen Wünsche in Erfüllung!»

* * *

Nagano stieg aus dem verlotterten Auto, das mit Tüchern, Körben und vielen Glasperlenketten beladen war. Der Fahrer, ein bärtiger Mann aus Kenia, schaute sie an: «Wir sind hier in Frankreich. Dort ist die Grenze; zuerst kommt ein Ort, den sie Allschwil nennen. Dann kommt die grosse Stadt. Die Strasse, die du hier auf diesem Zettel aufgeschrieben hast, ist in Kleinhüningen – einem früheren Fischerdorf. Viel Glück!»

Nagano schaute ihn an: «Ich danke dir. Glück kann ich brauchen. Und Glück wünsche ich dir auch.»

Als man Nagano im Meer aufgefischt hatte, war sie ohnmächtig gewesen. Sie brachten die leblose Frau ins Spital. Hier lag sie vier Monate. Und konnte sich an nichts erinnern.

Menschen kümmerten sich um sie – aber für Nagano war alles weit weg. Die Stimmen. Die Erinnerungen. Das wirkliche Leben.

Manchmal hörte man sie «Amur» murmeln, dann «Sagal».

«Sie kann nicht hier bleiben», sagte eines Tages ein Mann in eleganter Uniform. «Wir können nicht alle behalten.»

Eine Odyssee begann. Nagano wurde von einem Land ins nächste abgeschoben. Wenn Polizeibeamte sie etwas fragten, verstand sie diese nicht. Und wenn man jemanden beizog, der Naganos Sprache redete, wusste sie keine Antwort.

Sie wusste überhaupt nichts mehr.

Schliesslich brachte man Nagano in ein Lager bei Paris. Hier sass sie monatelang in einer Ecke. Und stierte ins Weite. Andere Flüchtlingsfrauen versuchten, mit ihr zur reden. Aber Nagano lächelte nur abwesend – bis zu jenem Tag, als sie in ihrem alten Rock einen Zettel fand. Die Schrift war kaum mehr lesbar. Aber plötzlich klärte sich alles in Naganos Kopf: Amur … Sagal … das Schiff … sie wollten zu Geedi …

Sie schrie auf. Und eine der kenianischen Frauen kam zu ihr: «Was ist mit dir …?»

Nagano atmete schwer: «Ich kann mich erinnern … ich bin Nagano … und ich war mit meinen Kindern auf der Flucht zu Geedi … ich muss zu dieser Adresse!»

Die schwarze Frau nahm sie rasch zur Seite: «Sei still … tu so wie immer … du kannst dich an nichts erinnern … solange du krank bist, können sie dich nicht zurückschicken … ich werde meinen Bruder bitten, dir zu helfen.»

So kam sie in den Lotterwagen, der sie bis zur Grenze brachte.

Nun lief sie am verwaisten Zollhaus vorbei. Lief. Und lief.

* * *

Als die Kinder und Agi Hermine zu ihrem Haus führten, war es bereits dunkel. Da und dort leuchteten Weihnachtsmänner in den Vorgärten – und hinter den angelaufenen Fensterscheiben schimmerten Kerzenlichter.

«Es ist herrlich, wieder daheim zu sein – ihr macht mir das schönste Geschenk zu Weihnachten!» – Hermine strahlte ihre drei Begleiter an.

Sie schob den Schlüssel ins Schloss zur Wohnungstüre. Und schaute er-staunt auf: «Hier ist nicht abgesperrt … es scheint, dass jemand drin ist.»

«Vermutlich das Christkind», lächelte Agi, «es ist schliesslich Heiligabend.»

Da öffnete sich die Türe wie von Zauberhand. Geedi lachte Hermine an: «Frohes Fest!»

Hermine aber stammelte. «Das gibt es nicht … nein … und dieser wunderschöne Baum … das ist wirklich Weihnachten!» Sie starrte die Tanne mit all den glänzenden Kugeln und Sternen an: «… und mein alter Weihnachtsschmuck … die Vögel … die Sterne!»

Amur nahm sie zur Seite: «Die Sterne sind wie auf meinem Amulett; es sind Mamas Sterne.»

Hermine aber drückte die beiden Kinder an sich: «Das ist das schönste Weihnachtsfest in meinem Leben; das werde ich euch nie vergessen.»

Agi nahm ihre Freundin beim Arm: «Das tollste Geschenk kommt noch, Hermine, schau mal in die Küche; es ist natürlich noch nichts fertig, erst alles geplant.»

Neben dem alten Schüttstein stand tatsächlich eine Duschkabine. Hermine sperrte die Augen gross auf.

Agi grinste: «Das ist mein Geschenk. Schliesslich habe ich dir die Sache mit dem Seniorenheim eingebrockt.Geedi wird dir hier ein Badezimmer samt Toilette bauen. Er ist grossartig, ein Handwerker, wie man ihn nicht mehr findet.»

Da heulte Hermine los: «Du meinst, ich kann wieder zurück? Für immer?!»

«Klar – und wenn Geedi die ganze Hütte renoviert, können wir alle zusammenwohnen – als kunterbunte WG, was meinst du?»

In diesem Moment schrie Hermine auf: «Josef!» Der Kater hüpfte ihr direkt in den Arm. «Josef, du hast mich wieder – diesmal für immer.»

* * *

Es war eine ausgelassene Gesellschaft, die sich genüsslich Agis Weihnachtsgutzi reinzog und immer wieder die Blicke zum Prachtsbaum schweifen liess. Da klingelte es.

«Um diese Zeit? An einem Heiligen Abend?» – Hermine humpelte zur Türe. Dort stand Frau Huber vom Eckhaus, in dem Geedi und die Kinder daheim waren: «Entschuldigen Sie, Frau Landolt, aber diese Frau hier wollte zu Herrn Geedi. Und da ich wusste, dass er bei Ihnen feiert, habe ich sie hierher gebracht.»

«Ich suche meine Kinder», flüsterte die schwarze Frau hinter der Nachbarin schüchtern. «Und ich suche meinen Schwager Geedi.»

Hermine konnte kein Wort verstehen – doch da gellte ein Schrei durch die Wohnung. Sagal und Amur lagen weinend in Naganos Arme.

«Da geht einem ja das Herz über», schnäuzte sich die Nachbarin. «Das ist schon fast ein Weihnachtswunder.»

* * *

Eine Stunde später sass Nagano mit ihren Kindern am Küchentisch. Sie streichelte immer wieder die Arme der Kleinen: «Ich bin so glücklich … und ich bin so dankbar, dass nun doch alles gut geworden ist.»

«Der Stern hat über uns alle gewacht», nickte Amur. Und zog das Amulett über den Hals: «Nun musst du ihn wieder tragen, Ma – du bist der Stern der Familie.»

Von der alten Dorfkirche in Kleinhüningen hörte man Glocken. Nagano schaute ihre Kinder fragend an.

Amur drückte seine Mutter an sich: «Es ist eine grosse Feier Mamma – sie nennen es das Fest der Liebe. Und sie glauben, dass ihr Stern wie vor über 2000 Jahren ein Wunder vollbringen kann.»

Nagano lächelte. Und küsste ihre beiden Kinder: «Es wäre schön, wenn alle auf dieser Welt an solche Sterne glauben könnten.»

Mittwoch, 24. Dezember 2014