Patchwork-Weihnacht

Hanna mochte Weihnachten nicht.

Das Fest erinnerte daran, dass sie alleine war. Nie fühlte sich Alleinsein so bleischwer an wie ­während dieser Tage, wo die Nachbarn ­Weihnachtsbäume heimschleppten. Und an den Haustüren Adventskränze hingen.

Hannas Freundinnen feierten bei ihren Familien. Grosskinder. Blockflötenzauber unter der Tanne. Fondue Chinoise. Das ganze Gefühlsprogramm eben.

Hanna redete sich ein, dass sie dies alles nicht haben müsse. Sie versicherte den beiden Frauen: «Ich will nur meinen Frieden…»

Vreni seufzte: «Vielleicht solltest du mit Cécile einfach einmal…» – weiter kam sie nicht.

Hanna schickte ihr einen Blick. Und die Freundin schwieg. Das Thema «Tochter» war seit Monaten tabu.

Hanna hatte Céciles eigenwilligen Lebensstil immer verurteilt: zuerst das brotlose Studium der Kunstgeschichte. Dann ein Kind im Alleingang. Und dieser Kindsvater spazierte einfach im Haus ein und aus – so etwas war grotesk. Unnatürlich. Und nicht nach Hannas Regeln.

Als Cécile sich einen andern Mann anlachte, schwieg Hanna noch immer. Aber sie dampfte wie die Milch auf dem Siedepunkt.

Mittlerweilen lebte ihre Tochter mit vier Kindern: eine Eigensorte. Und drei Zugezogene vom Neuen. Manchmal waren es gar sechs, wenn ­Céciles Ex (mit dem es irgendwie doch nicht ganz «exitus» war) auch noch die beiden Buben seiner neuen Lebensgefährtin mitbrachte. Das Ganze ähnelte einem wilden Kindergarten. Und Cécile war die Kita-Tante. DAFÜR HATTE HANNA IHRE TOCHTER NICHT STUDIEREN LASSEN!

Zum grossen Bruch kam es dann, als Hanna erneut schwanger wurde. Cécile bekam noch immer Herzrasen, wenn sie an jenes Gespräch am letzten Weihnachtsfest zurückdachte.

«UND W E R IST DER VATER?»

Cécile hatte nur gelacht: «Ach Ma – du hast ­einfach veraltete Vorstellungen. Wir leben in einer Patchworkfamilie. Da gibt es viele Väter. Viele Mütter. Viele Kinder.» Sie lachte wieder: «Und viel, viel Freude…»

Das war der Moment, wo die Milch überkochte. Und Hanna brüllte: «Aber das ist einfach nicht richtig. Kinder brauchen einen Vater. E i n e n!» Cécile versuchte es auf lustig: «Jesus hatte auch zwei…»

Hanna wurde bleich. Sie verliess wortlos das Haus mit dem wilden Kindergeschrei.

Künftig herrschte STUMMFILM zwischen Tochter und Mutter. Vor drei Monaten hatte Cécile ein Kärtchen geschickt: Hanna sei Grossmutter eines kleinen «Kevin» geworden.

Hanna schickte keine Antwort zurück.

Im Fernsehen brachten sie zum 20. Mal «Der kleine Lord». Hanna kannte jeden Satz. Sie hatte eine Flasche Wein geöffnet – etwas, das sie sich sonst nur bei Grippezustand leistete.

Es schien, dass Familie Bitterli bereits «O du Fröhliche» sang. Dabei war es erst knapp nach sechs Uhr.

Hanna atmete schwer. Eine Träne kullerte über ihre Backen. Und dann merkte sie, dass die ­Stimmen von der Strasse kamen.

Sie ging zum Fenster. Auf dem Trottoir stand ein Grüppchen Kinder. Und schaute zu ihrem Fenster: «Freuuuet euuuch… freuuuet euuuch…», ­schmetterten die Stimmchen. Und dann sah Hanna, wie Cécile ihr lachend zuwinkte. Sie trug ein Kind im Arm. Und rief nach oben: «Wenn der Esel nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Esel kommen…»

UNVERSCHÄMTHEIT!

Hanna knallte das Fenster zu. Drei Minuten später lag sie Cécile in den Armen.

Beim Nachtessen in der Grossfamilie – Fondue Chinoise! – hielt die Grossmutter Kevin auf dem Schoss. Der Kleine strahlte sie an.

«Er hat braune Augen», dachte Hanna. Und linste dann neugierig in die grosse Runde: Welcher von all diesen Männern hier hat braune Augen?

Montag, 22. Dezember 2014