Von Prager Lebküchlein und Wurstfingern…

Illustration: Rebekka Heeb

Prag ist wie Rom. Oder Paris.

ALLES ZIRKUS ODER WAS?

Junge Menschen in Mozartkostümen lotsen dich zu Orgelkonzerten. Clowns mit kalkweiss gestrichenen Gesichtern pusten Riesen­seifenblasen über die Plätze. Und immer wieder rattert dir eine feudale Pferdekutsche über die Zehen.

Es ist wie in einem permanenten Milos-­Forman-Streifen. Nur dass in der Kutsche kein König und kein Salieri hockt. Sondern gemeines Volk. Ja klar – der Tourist ist hier König. Und blecht für seine 20 dahingekütschelten Minuten mehr als kaiserlich.

Aber solche Kutschenfahrten lassen sich die Chinesen und Japaner schliesslich auch im New Yorker Central Park gefallen. Oder in Interlaken. Nur in Adelboden ist es ein Wagen mit Ochsen­gespann. Und in Rheinfelden werden auf ähn­lichen Pferdefuhren Bierfässer herumgefahren.

Ich meine: Das Angebot ist austauschbar. Wien, Prag, Paris unterscheiden sich heute lediglich noch am Mundgeruch der Taxifahrer.

Ich habe Prag als düstere, dunkle Stadt in ­Erinnerung – so als hätte eine böse Fee einen schwarzen Schleier über die prächtigen, alten Häuser geworfen.

JETZT: ALLES TOTAL NEU.

TOTAL ANDERS.

TOTAL FARBIG.

Klar – die Häuser sind immer noch alt. Aber sie erstrahlen herausgeputzt wie aufgetakelte Huren in neuer Farbenpracht. Auch das Souvenirangebot unterscheidet sich nicht gross von damals, als Havel Präsident wurde: Der hölzerne Pinocchio (ein Lügner, der aus chinesischem Kunstholz geschnitzt wird) hampelt überall. Die Tschechen haben den italienischen Frohmann annektiert. Lange Nasen gibts ja auf der ganzen Welt.

Pavel bringt mich schliesslich auf einen ­kleinen Markt, etwas ausserhalb der Stadt: «Wenn du unser wahres Land erleben willst, nimm das Tram. Und fahr an den Stadtgürtel…»

Okay. Tun wir also. Pavel ist ein Computer-Mann. Ich habe ihn auf einer Reise nach Modena kennengelernt, als Innocents Laptop nur noch Wolken warf. Und er ihn eben bebend vor Wut aus dem Hotelfenster werfen wollte.

Pavel nahm ihm die Maschine aus den Fingern. Drückte drei Knöpfe. Und sagte: «Et voilà!»

Ich meine: So etwas vergisst man einem Menschen nicht so schnell.

Das Erste, was mir auf Pavels kleinem Markt in die Nase stieg: ein ganz ­wunderbarer Geruch von warmem Zimt, Vanille und frisch aufgegangenem Blätterteig. Ich verdrehte die Augen und tropfte Speichel wie ein alter Hund vor seiner letzten Wurst.

«Das ist ein Trdlo» – nickte Pavel.

Ich weiss nicht, wie man so etwas schreibt. ABER ICH WEISS, WIE TRDLO SCHMECKT. UND DAS IST EINFACH WUNDERBAR.

Die Blätterteigdinger werden auf langen Rohren gedreht. Im offenem Feuer gebacken. Und schmecken, als hättest du gerade ein Stück vom Paradies abgebissen.

ICH BISS SECHSMAL INS PARADIES.

Dann hatte ich Magenbrennen. Ein ­Apotheker mixte mir ein Tinktürchen aus ­Ziegenmilch, Honig und drei Eigelb. Es war gewöhnungsbedürftig. Aber effizient.

Bei einer kleinen Frau blieben wir dann stehen: «Das ist Tereza. Sie backt immer auf Weihnachten hin Lebkuchen an ihrem Stand. Jetzt kannst du zuschauen, wie sie die Küchlein verziert…»

Tereza war mindestens so breit wie hoch. Bei ihr spross so etwas wie ein Damenschnauzer und unter dem Kinn wucherte ein unfreiwilliges Goatee. Ihre Nase war knollig. Die beiden kornblauen Augen lagen tief eingebettet hinter knallprallen Backen – und wenn sie mit uns sprach, zischelte ihre Zunge stets links und rechts am einzigen Zahn im Mund vorbei. DANN DIE HÄNDE! – Es war, als würde Bell eine Wurstaktion lancieren.

«Sie ist in ganz Tschechien für ihre Lebküchlein berühmt», flüsterte Pavel mir zu. «Ich wundere mich, weshalb sie nicht eine ­Hotdog-Bude betreibt», flüsterte ich zurück.

Und dann sah ich, wie diese dicken Finger ein kleines Papierstückchen zu einem Cornet drehten. Tereza füllte den Trichter mit Eizuckerschaum. Und tanzte mit dem Spritzsack grazil wie eine Eisprinzessin auf den winzigen Lebküchlein herum. Plötzlich entstanden schneeweisse Verzierungen, fein wie die Spitzen eines Négligés.

In Blitzesschnelle hatten die fetten Wurst­fingerchen aus dem Papiertütchen Eissterne, Winterlandschaften und verschneite Tannenbäume auf die Lebkuchen gezaubert.

Jetzt lachten mich die kornblauen Schlitz­äugchen fast triumphierend an, so als wollten sie sagen: «Da verschlägt es dir aber die Sprache, du Pfeife!»

Natürlich wollte ich bei Tereza gleich 260 Lebküchlein als Tischdeco für meine Weihnachts­essen bestellen. Aber das kleine, dicke Persönchen redete in dieser Sprache, die mit ihren «itsch--itsch--itsch» stets wie ein ungeöltes Türschloss tönt, auf Pavel ein.

Der schaute mich strafend an: «Typisch west­liches Kapitalismusdenken! Du bekommst acht Stück – wie jeder andere hier auch. Sie sagt, sie sei keine Maschine. Und jeder soll sich an Terezas Lebküchlein freuen können…»

Da habe ich mich ganz fest geschämt. So wie damals, als kleiner Junge, wo ich am Kindergeburtstag von der Kembs­erweg-Omi den Würfel manipulieren liess, um beim Schokoladen-Spiel die 300 Gramm Cailler mit Nuss ganz alleine auf­essen zu können…

«Dort hats einen Stand mit Chlebicky» – freute sich Pavel. Chlebicky sind auch so etwas wie eine tschechische Nationalspeise. Bei uns würden sie als «belegte Brote» durch­gehen. Nur sind die unseren etwas aufwendiger garniert.

DOCH DA WOLLTEN WIR MAL NICHT SO SEIN. Und bissen uns herzhaft durchs Angebot.

Okay – ihr Name tönt wie ein Nonnenfurz vom 1. August. Aber kulinarisch waren diese Chlebicky ein Drei-Sterne-Erlebnis. Ohne Wenn und Aber…

Dienstag, 25. November 2014