Von der Mühe des Fliegens und einer Ente in Prag

Illustration: Rebekka Heeb

Natürlich bin ich zu früh. Ich bin an Flughäfen stets zu früh. Klare Angst: Du verpasst den Flieger. DIE JAHRE HÄTTEN MICH EINES BESSERN BELEHREN SOLLEN: MAN VERPASST HEUTE KEINE FLUGZEUGE MEHR. MAN WARTET AUF SIE, WIE DIE VERLASSENE BRAUT AUF DAS JAWORT VOR DEM ALTAR. Am Schluss geht gar nichts mehr. Flugzeug und Bräutigam haben Motorschaden – ES MUSS NACH ERSATZTEILEN UND NOTLÖSUNGEN GESUCHT WERDEN!

Ich durfte nach Prag. Frohe Laune also. ­Erstens ist Prag eine wunderbare Kulisse, in der aus jeder Ecke Formans «Amadeus» winkt.

Zweitens ist die Stadt eine Hochburg an ­Torten, bei denen gestampfte Mohnsamen mit Zimtzwetschgen vermischt werden.

Und drittens wars ein Auftrag: «… wir ­möchten etwas über tschechisches und öster­reichisches Weihnachtsgebäck. Jetzt tauchen Sie schon ein ins zuckrige Thema!»

ALSO DAS MIT DEM GEBÄCK MUSS MAN MIR NICHT ZWEIMAL HUSTEN! BEI KUCHEN IST FÜR MICH AUCH IM JULI FROHES FEST.

Ich stehe also mit Block und Fotoapparat in den Startlöchern – da dingdongt es zum ersten Mal: «… der Swiss-Flug nach Prag hat leider Verspätung. Wir halten Sie auf dem Laufenden!»

Das «Laufende» war eine Stunde später ein erneutes Dingdong. Und die Botschaft: ­«Maschinenschaden. Der Flug ist gecancelled. Wir freuen uns, Ihnen gratis ein abgegastes ­Sandwich servieren zu dürfen!»

UND DANN HÄTTEN SIE MAL ERLEBEN ­SOLLEN, WAS DA LOS WAR! Etwa 100 Leute – darunter Opernfreunde, die sich Dvorák und ­Smetana um die Ohren pfeifen lassen wollten – hatten Panik: UND WIE KOMMEN WIR JETZT ZU UNSEREM SOUND?

Ich rief Pavel, meinen Prager Freund an. Er hatte mich nämlich fürs Abendessen zu haus­geschossener Ente mit Äpfeln rundherum geladen: «Du kannst den Vogel schon mal zurückgefrieren!» – «SEI KEIN PENNER – DU SCHAFFST DAS SCHON. DAS FEDERVIEH SCHMORT BEREITS IN DER RÖHRE!» Und in ebendiese guckte ich jetzt: DENN DA WAR DIESE ­WARTEREI AUF ALL DAS, WAS UNS DIE ZUKUNFT UND SWISS BRINGEN SOLLTEN.

Nun gut – ich wartete eine ­weitere Stunde auf einen Ausweich- Flug nach München. In München wartete ich auf das Flugzeug nach Brno. In Brno wartete ich auf den Zug nach Prag. Und im Hauptbahnhof von Prag wartete ich auf ein Taxi – es war mittlerweilen 3 Uhr morgens. Und ausser ein paar lallenden Alkis und zwei, drei Huren, die sich die Waden rieben, gabs auf den ­Prager Strassen niemanden, der mich bedauern konnte.

Ich schellte Pavel aus seinem japanischen Futon: «KEIN WILLKOMM HIER?! KEINE ENTE AUF ÄPFELN? WAS IST DAS FÜR EIN EMPFANG? – Ich stehe mir an eurem Bahnhof ein Loch in den Bauch! Und die einzige Person, die mir freundlich ­zulächelt, hat keine Zähne im Mund und drei Flaschen vor sich.»

Pavel tönte ziemlich schläfrig: «Die Ente ist seit fünf Stunden Stroh, und die Äpfel sind Mus. Beim Bahnhof hat es ein nettes Hotel. Es heisst ‹Pariz›. Der Kasten ist ganz deine Nummer! Tauch unter. Und melde dich morgen gegen Abend …»

ÜBERLEGUNG: WO SCHIESST ER SO BALD EINE NEUE ENTE HER?!

Ich will nicht hadern. Und mit Bemerkungen wie «früher war die Welt einfach besser» siehst du alt aus. Solche Worte zeigen jedem, dass dir die Rente ins Haus und Hirn schneit.

ABER WENN ICH AN UNSERE FAMILIENREISEN NACH ADEL­BODEN DENKE! Da gabs nie ein Warten. Keine Schreckens­minuten an Schaltern – der ­einzige Panikmoment brach höchstens mal in Balsthal aus, wenn Mutti ans volle Herz griff: «HANS – ICH WEISS NICHT, OB ICH DAS GAS ABGESTELLT HABE …»

Und natürlich kotzten wir bei der Bezwingung des Hauensteins an jeder fünften Kurve: ABER BITTE – DA LIEF IMMERHIN ETWAS. BESONDERS WENN DIE KEMBSERWEG-OMI DANN AUCH NOCH NACH JEDEM DRITTEN WALD BELLTE: «ANHALTEN … ICH MUSS MAL ZU TANTE PIPI!» So machte Reisen Spass.

Das Hotel Pariz kam mir gleich bekannt vor. In dieser gigantischen Hütte des Jugendstils und Plüschs nächtigte ich noch zur Zeit, als kommunistische Funktionäre klebrigen Krimsekt schäumen und den Kaviar rollen liessen.Damals musste ich etwas über tschechische Ostereier schreiben. Sie galten als die prächtigsten im Eiersammlerland. Also liess ich mir tausend Visa und Bewilligungen stempeln. Und fuhr mit dem Zug an die Moldau. Fräulein Intourist brachte mich in ebendiesem Jugendstilkasten unter – und ich war umgeben von singenden ­Russen, die hier weniger Eier als Hennen suchten. Ja, es schien, als käme das Hotel Pariz mit seinen riesigen Jugendstilräumen gar nicht mehr aus dem Feiern raus. Geschliffene böhmische Sekt­gläser waren zu Pyramiden aufgeschichtet. Und adrette, blonde Tschechinnen (Ich glaube, es waren damals Tschechoslowakinnen?) kletterten in klobigen Pumps auf hohe Leitern. Liessen ­Fünfliterflaschen knallen. Und das schrecklich süsse Gesöff ins erste Glas zischen, sodass es sich von dort wie eine Wintergrippe auf alle andern Gläser nach unten hin ausbreitete.

«NA ZDAROVJE!» – brüllten die Russen.

«Na zdravi!», flüsterten die Tschechen (die, so glaube ich, damals ebenfalls noch Tschecho­slowaken waren).

ICH MEINE: HEUTE ZWITSCHERT SICH DER RUSSEN-PRÄSIDENT NUR ZISCHMOST AUS DEM HAUSE MOËT & CHANDON REIN. UND DIES AUS RIEDELGLÄSERN.

Ich störte den Nachtportier bei seinem Computerspiel: «Haben Sie ein Zimmer?» Er gähnte: «Sie kommen aber spät, mein Herr … waren Sie schon mal bei uns?» Hätte ich ihm das von den Russen und den gemalten Eiern erzählen sollen?

«Nein», log ich. Und: «Ich habe Hunger!»

Der Mann händigte mir einen Schlüssel aus: «Die Küche ist um halb vier Uhr morgens geschlossen. In vier Stunden gibts Frühstück. In Ihrer Minibar hat es ein Päckchen mit Chips!» Die Chips waren noch aus der Zeit der Sowjetunion.

Ich schlief sofort ein. Mein Traum drehte sich um eine abgeschossene Ente sowie Pavel, der nach Adelboden fuhr und rief: «HABE ICH DAS GAS ABGESTELLT?!»

Dienstag, 18. November 2014