Der Dom war menschenleer.
Nur einer der ehrenamtlichen Wächter sass in einer der hölzernen Kirchenbänke. Sein Kopf lag auf dem Gebetsbuch.
Der Mann schlief. Und zog manchmal geräuschvoll den Speichel durch den zahnlosen Mund.
Monica fröstelte.
Das Gotteshaus war riesig. Die einzelnen Ecken schimmerten gespenstisch im magern Kerzenlicht. Immerhin flimmerten zum Teil noch richtige Wachsteelichter in roten Kunststoffbechern. Und nicht diese elektronischen Gräuel, die – so man eine Münze in den Opferstock warf – wie durch Gottes Hand entflammt zu leuchten anfingen.
Einmal hatte Monica einen Hemdknopf in den Schlitz geworfen. Keine Kerze entflammte. Das Auge des Herrn war auch in der modernen Technik überall.
Jeden Morgen bevor sie ihre Arbeit als Kassiererin im Supermercato antrat, besuchte Monica den Dom. Vor der hölzernen Statue der Madonna mit dem Kind kniete sie nieder.
Leises, monotones Gemurmel plätscherte jeweils durch die dunklen Kirchengänge. Es tönte nach Rosenkranz. Nach Gebet. Und Gottesdienst.
Monica hatte nie eine Menschenseele gesehen – da entdeckte sie die kleinen Lautsprecher an den Steinsäulen, welche das eintönige Gesumme ab Band tröpfeln liess. «Heilige Mutter, ich habe gesündigt …», flüsterte Monica nun.
Die Angesprochene lächelte. Sie hatte nicht dieses schrille Selfie-Lachen von heute, das immer wie ein Theaterblitz aufflammt, sobald jemand den Fotoknopf auf dem Handy drückt.
Maria schaute über Monica hinweg. Freundlich zwar. Aber etwas abgedriftet – fast, als ob sie zu viel Shit eingeworfen hätte und ihre Gedanken sich um ganz andere Dinge kreisen würden als um den Kniefall einer armen Kassiererin zu ihren Füssen…
«… es tut mir so unendlich leid!» – Monica redete eindringlich auf die Mutter mit dem Kind im Arm ein. Zwei Tränen kullerten über ihre Backen. Es waren die einzigen Tränen, die das Leben ihr gelassen hatte. Die Jahre hatten Monica ausgetrocknet – ihre Gefühle für die andern Menschen, ja für all das Schöne und Schreckliche, das jeden Tag passierte, waren mit der Zeit erloschen. Nur der Morgen im Dom brachte ihr einen kurzen Moment dieser vergessenen Welt zurück.
«… ich hätte es nicht tun sollen», flüsterte sie nun.
Mit 17 hatte sie Franco kennengelernt. Er war die erste Liebe gewesen.
Franco war mit dem Zirkus Orfeo nach Bologna gekommen. Sein Salto mortale wurde als «Weltsensation» angekündet.
Monica hatte keine Augen für den Salto. Nur für Franco. Sie klopfte an seine Wohnwagentüre. Und wollte ein Autogramm.
Sie bekam mehr.
Als sie schwanger wurde, setzte sie ihr Vater vor die Türe. Sie klopfte wieder bei Franco an der Wohnwagentüre. Eine verhärmte Frau öffnete: Ihr Mann sei nicht zu Hause!
Monicas Tante brachte sie zu einer alten Frau – einer Engelsmacherin, wie man diese Art von Weibern nannte. «Du verpfuscht dir sonst dein ganzes Leben», hatte sie die Nichte beschworen.
Als Monica nach dem Eingriff das schäbige Haus der Alten verliess, war etwas in ihr zerbrochen. Für immer.
Langsam zog sie sich nun am Gebetsstuhl hoch. In 15 Minuten musste sie vor der Kasse sein.
«Ich konnte nicht anders…», flüsterte sie noch zur Madonna. «Da war niemand für mich da!» Und dann etwas bitterer: «Auch niemand aus deiner Familie!»
Sie ging zum Ausgang. Der Wächter war nun wach. Und wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab: «Es wird ein schöner Tag werden», nickte er Monica zu.
Die hatte den Tag bereits durch das grosse Portal betreten.
Der Himmel war grau.
Und es regnete.