«Und was ist mit der Friese?» Diese Frage zieht sich seit einigen Monaten wie die Serpentinen durch unser Inselleben.
WIR HABEN GERADE NOCH EINEN EINZIGEN HAARSCHNEIDER IM LAND!
Seit die jungen Leute Leine ziehen und sich Arbeit in Australien, Mexiko oder auf dem Mond suchen, leert sich die kleine «Penisola» am südlichsten Zipfel der Toskana wie die Staatskasse in Rom.
Zurück bleiben die Alten. Buckligen. Und die mit den gewickelten Beinen.
Diese paar Über- und Hierlebenden nehmen die Kohle von den letzten Touristen, die vor Jahren gestrandet sind. Die wenigen Engländer und Amerikaner haben nicht mehr den Mut, sich neu zu orientieren. Oder gar nach andern Ufern aufzubrechen.
ALLES RESIGNIERT. UND ZUALLERERST DIE LETZTEN TOURISTEN.
Das haarigste Problem dieser reziproken Neuzeit heisst also «Haarschneiden».
«Ich lass mich dann rasch mal rasieren» – DAS WAR FRÜHER.
Wenn du heute auf unserer Insel dein Haar schnippeln lassen willst, musst du dir einen ganzen Tag freinehmen. Und vor einem Berg Softpornoheftchen und Auto-Illus versauern.
Die Leute stehen vor Aldos kleiner Schnitt-Bude Schlange.
Während das Land nämlich von Halsabschneidern wimmelt, ist auf der Insel ein einziger Haarschneider übrig geblieben.
Bei unsern Nachbarn auf Giglio ist es noch arger. An dieser Küste hat ein gewisser Kapitän Schettino kurz mal ein Schiff in den Sand gesetzt. Dieser Macho-Gangster hat auf seine Art das Inselleben in einer einzigen Nacht ruiniert. Und sich als einer der ersten Flüchtenden im Rettungsboot vor Angst die blütenweisse Hose vollgeschissen. Zum Dank für ein paar Dutzend Tote und diese unglaubliche Publizität für den südlichen Teil der Toskana wurde er dann von seinen Landsleuten als Gastdozent an die Universität Rom berufen. Thema der Vorlesung: «Wie reagiere ich richtig in Stresssituationen?»
Leider ist das kein Witz – sondern der Irrsinn von Italien. Und sicherlich ist es auch mit der Grund, weshalb die kleine Gruppe von denkenden Menschen den Tag in diesem Land mit einem Caffé corretto (das bedeutet ganz wenig Kaffee, ganz viel Grappa) beginnen.
NUR SO KANN MAN ÜBERLEBEN.
Aber um auf Giglio zurückzukommen: NACH DEM SCHIFF IST NICHTS MEHR WIE VOR DEM SCHIFF.
Zwar haben die Versicherungen den Schandfleck mit einem Aufwand von einer halben Milliarde Euro aus der wunderschönen Hafenansicht weggeräumt – ABER DER SCHOCK HAT SICH HIER IN DIE FELSEN UND LEUTE EINGEFRESSEN WIE DAS MEERSALZ IN IHRE HÄUSER UND STEINE.
Giglio hatte eh nur wenige Bewohner – und wer heute überleben will, packt seine Dinge und emigriert aufs Festland. Die meisten gehen noch einen Schritt weiter: am besten über die Grenze. Über den Ozean. Einfach weg.
So kommt es, dass China, Florida und auch Moskau ein Überangebot an italienischen Figaros haben. NICHT ABER DIE INSEL GIGLIO, wo die Grossmütter wieder zur Schere aus dem Nähkorb greifen müssen. Und auch nicht unsere kleine Halbinsel Monte Argentario, wo Aldo sich eines Haarschnittmusters bedient, das man gut und gerne als «Schüssel-Stil» bezeichnen könnte: Schüssel über die Rübe. Alles, was unten rausfilzt, absäbeln. Schüssel weg. Und Föhn. DIES BEI MÄNNLEIN WIE WEIBLEIN. Wenn sich ausnahmsweise ein paar Touristen hierher verirren, halten die Neuankömmlinge aufgeregt diese skurrilen Einheitsfrisuren auf den Mikrochips ihrer Mobiltelefone fest. Sie zeigen die Bilder dann zu Hause herum. Stolz reden sie von ihrem Motiv-Fund: «die Eingeborenen mit dem Glockenschnitt».
So kann ich, wenn das Haar wieder mal gewuchert hat, wohl schnittig meine Wünsche anbringen: «Bitte nur ganz wenig … hinten länger … vorne etwas kürzer … aber schön gestuft. Und bei den Ohren einfach so lassen …»
Ich könnte solche Wünsche ebenso locker ins Meer hinausschreien. Oder in diesen Saal, wo die Alten des Dorfs Bingo spielen.
ES PASSIERT NICHTS.
Wohl sagt Aldo «Si».
Dann holt er den Kübel. Schnippelt rundum ab.Und fertig ist die Glocke.
Als Aldo nun letzte Woche verkündete: «Herrschaften. Es ist vorbei. Ich habe genug gekübelt. Und meinen Ruhestand mit 55 verdient», da ging ein Lamento und Klageheulen über die Insel, wie wir es nur erleben durften, als «Fernanda amabile», die dicke Fischerhure, von einer Vongole-Vergiftung niedergerafft wurde; damals trauerte der Hafenort zehn Tage. Die Geschäfte blieben geschlossen. Und Guglielmo, der Bäcker, hatte ein Foto von Fernanda mit einer schwarzen Tüllschleife neben die ofenwarmen Cantucci ins Schaufenster gelegt.
Alle haben wir Aldos Knie umklammert, unsere Köpfe in seinen Schoss gelegt und auf seine haarige Brust eingetrommelt. «Aldo – ohne deine schnittige Haarkunst sind wir verloren, und überhaupt: «Wo sonst sollen wir den neusten Klatsch vom Ort erfahren?!»
«ICH HABE DIE NASE VOLL. ABER GESTRICHEN», brüllte er uns alle an. «VON EUREN 5 EURO SCHNITTGELD MUSS ICH HEUTE 3 EURO UND 50 CENTS AN DEN STAAT ABGEBEN. UND WAS TUT DER DAMIT? ER KAUFT SICH EINE NEUE FLOTTE VON 300 MERCEDES FÜR UNSERE SENATOREN! FÜR SO EIN BLECH BLECHE ICH NICHT MEHR!»
«Mariaundjosef!», schrie Bäcker Guglielmo (der mit dem Foto im Fenster). Er schüttelte Aldos Kopf: «Meinst du, uns geht es anders? Ja sollen wir deshalb alle aufhören? Gianni, der Metzger, Loredana, die Näherin, Marcello, der Fischhändler… WIR STECKEN IN EINER KRIESE, ALDO; das ist fast wie Krieg. Aber wir müssen zusammenhalten, müssen die Sache durchziehen – und diese ‹stronzi› (Arschlöcher) in Rom sollen uns mal.»
Alle nickten Aldo aufmunternd zu. Guglielmo hatte jedem von ihnen aus dem Herzen gesprochen. Der Bäcker nahm Aldos Kopf – und drehte ihn zum Himmel: «Da, schau die Sonne, schau unsre Weiber an, unser Meer – das reicht doch, um glücklich zu leben.»
Also das mit den Weibern war etwas hoch gegriffen. Aber ich schwieg.
«Bringt mir einen Espresso!», knurrte Aldo.
Beppe jagte in seine Bar. Und liess die Höllenmaschine dampfen.
«90 Cents», grinste er, als er das Tässchen in den Coiffeursalon balancierte, «davon gehen 60 ab nach Rom. ABER ICH SCHENKE DIR DEN ESPRESSO. SAMT DEM GRAPPA DRIN!»
«Ebbe», seufzte Aldo. Und kippte das Tässchen. «Ebbe – wer ist der Nächste?!»
Die Dynastie der Glockenschnittmenschen wird weiter bestehen.