Falsch getickt

Leo lag im Spitalbett. Lore streckte ihm ein ­Päckchen hin.

Er wollte kein Geschenk. Er wollte nur noch das Ende.

«Mach du es auf» … flüsterte er.

Lore seufzte. Sie riss das Papier auf: «Da schau!»

Langsam zog sie eine Rolex aus der länglichen Schatulle: «Eine Oyster … »

Er nahm die Uhr in seine abgemagerten Hände.

«Ach Lore … », seufzte er. Und schüttelte den Kopf. «Ich glaube, es ist zu spät … »

Dann stöhnte er kurz auf. Und die Zeit blieb für immer stehen.

Leo war stets ein Uhren-Narr gewesen. Schon als Kind. Wenn seine Grossmutter mit ihm auf den Dorf-Jahrmarkt oder gar zur grossen Messe in die Stadt ging, durfte er sich immer etwas wünschen. Er zog sie dann zu einem der ­«Kinderstände» mit den bunten Plastik­trompetchen, den Blechtrommeln und den Luftballons.

«Die Uhr!», sagte er dann.

Auf einem Karton waren verschiedenfarbige ­Kinder-Ührchen aufgepinnt. «Spinnührli» hiessen sie im Dialekt.

«Die rote … », Leo sagte es sehr bestimmt. Er wusste schon damals, was er wollte.

«Aber die geht doch gar nicht … », versuchte die Oma zu protestieren. «Die rote … », beharrte er. Und trug dann stolz die winzige Blecharmbanduhr mit dem gemalten Kartonzifferblatt an ­seinem rechten Arm.

Auf die Konfirmation hin schenkte ihm seine Patin eine Uhr aus Gold. Nun ja – das Armband war Schweineleder. Aber der Rest funkelte vornehm 18 Karat.

Der Chic funkelte dann nur drei Jahre.

Als Leo mit 19 auf seinem Trip nach Amsterdam diese junge Frau im Zug kennenlernte, tickte er gleich auf 100. Sie wohnte in Utrecht. Und brachte ihm auf ihrer Couch so einiges bei. Dazu ­gehörte auch: «Zieh die Uhr ab – die kratzt im Rücken!» Das hat er ein Leben lang nie mehr vergessen.

Vergessen hatte er allerdings die Uhr. Er merkte es erst am andern Tag.

«SHIT!» jaulte er. Da war Leo jedoch bereits in Scheveningen.

Als er erstmals die Rolex mit dem leicht ­vergrösserten Tag in der untern Ecke sah, war er sofort Feuer und Flamme. Aber natürlich lag so etwas bei seinem Briefträger-Gehalt nicht drin.

Er verfolgte nun alles, was mit Rolex im ­Zusammenhang stand.

Dank der Uhr wurde er zum Clooney-Fan und mochte Agassi nicht. Der trug nur eine Longines. In Neapel erlag er der ­Versuchung. Und kaufte sich bei einem Strassenhändler eine Kopie. «Swiss Made» stand darauf. Aber die Chinesen nahmen das nicht so genau. Am Schweizer Zoll nahm man ihm die Fälschung direkt vom Handgelenk. Leo schämte sich.

Lore, seine Frau, erbte dann von ihrer Tante ein kleineres Vermögen. Nun wäre so ein Geschenk für Leo drin gelegen.

Aber Lore fand diesen «Rolex-Spleen» lächerlich. Kommt dazu, dass sie eh nicht auf der Gerne-Geber-Seite zu Hause war.

«Wir müssen an das Alter denken, Leo», sagte sie. Und das Alter kannte keine Rolex-Wünsche. ­Sondern Obligationen im sichern Bereich.

Das mit der Krankheit kam unerwartet. Jetzt lief beiden die Zeit davon. Und diese tickte falsch.

Lore tippte sich am Computer die Finger heiss. Endlich fand sie auf ebay ein günstiges ­Angebot: «Rolex Oyster».

Doch nun war die Zeit abgelaufen.

Sie nahm die Uhr weinend aus Leos toten Händen.

Die Rolex lief immer noch.

Leo nicht mehr.

PS: Man kann die Wünsche des Lebens nicht in Obligationen anlegen. Sie sind da, um erfüllt zu werden …

Montag, 6. Oktober 2014