Aufklärung

«Max – du musst endlich mit Jens reden …»

Alice trug die Teller in die Küche. Und nervte sich, dass ihr Alter die teure Kabeljau-Mousse, die sie am Traiteur-Stand eingekauft hatte, einfach zur Hälfte liegen liess.

«Ist gut» – murmelte Max. Und stocherte mit einem halben Zündholz in den Zähnen herum.

Ludmilla Lebedew, seine aus dem Moskauer ­Vorort Hotkowo emigrierte Dentalhygienikerin, hatte ihm ins Gewissen geredet: «Wir müssen die Zwischenräume nach jedem Essen pingelig sauber bürsten, Herr Buser!» Und dann: «Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Sohn!»

Er hatte die dralle Blondine angegrinst: Es habe Zeiten gegeben, wo die Russen froh gewesen seien, überhaupt etwas zwischen den Zähnen zu haben.

SO UNGESCHICKTE BEMERKUNGEN KAMEN BEI LUDMILLA LEBEDEW NICHT GUT AN.

Sie hatte zu ihrem spitzesten Instrument gegriffen. Und ging Max schonungslos auf den Nerv.

«… hast du mich verstanden?» Alice kübelte vor der Spüle herum.

Er wollte jetzt in aller Ruhe das Ende der ­«Tagesschau» sehen. Deshalb: «Ja, ist gut …»

(Das verdammte Kabeljau-Zipfelchen steckte noch immer zwischen Zahn 13 und 14!)

Nun krachte die Küchentüre. Und Alice baute sich vor ihrem Gatten auf: «HÖRST DU MIR ÜBERHAUPT ZU?! – SVEN IST IM ALTER, WO DIE SUPPE ÜBERLÄUFT …» «Ach so? – und wie willst du das mit der Suppe wissen?»

Alice holte tief Luft: «Eine Mutter spürt so etwas … und sie sieht es an der Bettwäsche …»

Sie atmete kurz durch: «Da muss auch eine ­Freundin herumschwirren … sein Kissen duftet nach einem schweren Moschusduft … ich hoffe, es ist nicht das, was ich denke, Max … und seit einiger Zeit kommt er vom Tennis nicht mehr direkt heim … MAX, UNSER SOHN IST NICHT AUF­GEKLÄRT! Beeile dich, bevor er uns mit sechzehn Lenzen zu Grosseltern macht!»

«Ist gut …», das war ein Seufzer. Und das Ende der «Tagesschau».

Max wollte es gleich hinter sich bringen. Aber wie? Jovial und direkt: «Wir wollen mal übers Bumsen reden!» Oder sensibel: «Hast du schon einmal die Bienchen beobachtet?»

Sein Vater hatte ihm ein mageres Büchlein in die Hand gedrückt. Titel: «Du sollst es wissen».

Max muss heute noch grinsen, wenn er an das erleichterte Gesicht seines Erzeugers zurückdenkt, als er ihn beim ersten Satz von der überlaufenden Milch unterbrach: «Pa, du stammelst mir hier doch nicht etwa dein theoretisches ­Aufklärungsgedichtlein … ich stecke schon total in der Praxis!» Er klopfte an die Zimmertüre ­seines Sohns. Keine Antwort. Sven lümmelte auf dem Bett. Er hatte die Löffel mit tellergrossen Ohr­hörern zugedeckt. «Was iss?» – Sven zupfte den Bügel vom Kopf. Max fühlte sich unwohl. Weshalb war das so verdammt kompliziert? Er gab sich einen Ruck: «Also mein Lieber … wir sollten mal … ähhh … ich meine von Mann zu Mann …hemmhemm» – «W A S ISS?»

«… deine Mamma meint, die Milch sei am Überlaufen, ähhhemm … wie man halt so sagt … und ich weiss nicht, ob die Milch der Bienchen …»

Verdammt. Was war mit der Milch der Bienen? Gar nichts war! EIN SCHEISS WAR DAS. Und …

«Mein lieber Vater, du willst mir hier doch nicht etwa eine Aufklärungspredigt runtereiern?» – Sven grinste: «Die Praxis hat Ludmilla schon vor Wochen besorgt …»

LUDMILLA? SEIN SOHN MIT DIESER ­RUSSISCHEN ZWISCHENRAUMBÜRSTE!

Max verliess murmelnd das Zimmer. Und Sven setzte sich lachend die Musikohren auf: «… sie meint übrigens, du solltest dir die Zwischenräume besser putzen!»

«Und?» – meldete sich Alice neugierig aus der Küche. In diesem Moment fühlte Max das winzige Stück Kabeljau auf seiner Zunge. Der Zwischenraum zwischen Zahn 13 und 14 war wieder frei.

«Alles gut», gab er erleichtert zurück.

Montag, 29. September 2014