Liederabend

Er stand im Seitengang. Und er fühlte sich wie die Fliege vor der Klatsche: AHNUNGSLOS. DENN ER WUSSTE NICHT, WAS IHN ERWARTETE.

Auf der Bühne hatte Klara eben das «Amen» aus Otellos «Ave Maria» hinter sich. Bühne war vielleicht etwas übertrieben. Arie auch. Es war das Podium des Altersheims «Frohmatt». Immerhin hatte der Hausmeister mit drei Geranienstöcken eine blumige Note hingezaubert.

Und was das «Ave Maria» betraf – nun gut. Das Amen hatte sie hingekriegt. Hugo rümpfte die Nase: «... aber der Rest war eine wilde Herum­eierei in den Tönen gewesen. Herr Verdi würde mit Kopfschmerzen im Grabe liegen.»

«WUNDERBAR!» – raunte er Karla mit verlogen-bewunderndem Lächeln zu. Sie zerdrückte hysterisch ein Kleenex: «Ich habs versiebt, jaulte sie. Jetzt erst traf sie das hohe D, auf welches das Publikum vergeblich gewartet hatte.

Das Publikum bestand aus 71 Leuten. Die vier Gesangsschüler von Hilde-Heide Frohlaut hatten alles gegeben, um den Laden zu füllen. Aber alles war nicht genug. Am Schluss rollte man noch die Rollstuhlpatienten des Heims sowie die Abteilung «Schwerhörig» an.

Endlich spuckte Hilde-Heide ihrem Gesangsschüler Hugo auf die Achselpolster: «ES IST SO WEIT, HUGO KLEIN, DAS IST IHRE GROSSE STUNDE!»

«Gut stützen ... Kopf hoch ... Zwerchfell spüren ... und das B nicht pressen ...»

Hugo schloss die Augen. Es galt an so vieles zu denken.

Vor dem ersten Geranienstock wurde er angekündigt: «Sie hören jetzt zwei Lieder aus Schuberts «Die schöne Müllerin». Herr Klein, ein vielversprechender Heldentenor wird mit «Ich hör ein Bächlein rauschen ...» beginnen.

Natürlich war das falsch. Schubert hatte seinen Zyklus mit «Das Wandern ist des Müllers Lust ...» eröffnet. Aber die Lust des Müllers war in den hohen Lagen etwas heikel. Und hatte fünf Strophen. Da wars besser, mit dem harmlos rauschenden Bächlein zu beginnen.

Eine Wolke von Pfefferminz, Naphtalin sowie 4711 wehte Hugo entgegen. Er schloss die Augen.

Er hatte immer singen wollen. Schon als kleiner Bub. Als seine Oma den 70. Geburtstag feierte, hatte er sich hingestellt. Und mit «Weisst du, wie viel Sternlein steeehen ...» begonnen.

Die Verwandten hatten einfach weiter geschwatzt. Nur die Oma hatte geknurrt: «Ich will jetzt noch nichts von Sternlein hören!»

Das traumatische Erlebnis entfachte in ihm einen wütenden Entschluss: «EINMAL SINGE ICH DIE ALLE AN DIE WAND!»

Und jetzt war einmal.

Er hatte mit 24 seine ersten Gesangsstunden genommen. All sein Geld floss wie Schuberts rauschendes Bächlein zu Frau Frohlaut. Sie lehrte ihn, wie man einen Ton richtig stützt. Und dass man an einem Liederabend den Takt nicht mit den Füssen angibt.

UND JETZT WAR ALLES WEG. VERGESSEN. ER WUSSTE NICHT EINMAL MEHR, WIE SEIN LIED ANFING ...

Eugenia Knallhorn, die etwas hart spielende Pianistin, stierte wie die Schlange zum Kaninchen – sie wartete gereizt auf Hugos Zeichen.

«Hat er schon angefangen?», brüllte Frau Merzweiler in der Schwerhörigen-Reihe.

«PSSCHT!» nervte sich die junge Freundin von Hugo, welche ihr Handy auf «Video» gestellt und zur Bühne gerichtet hatte.

Als er nach sieben Minuten von der Bühne ging, wartete da Ferdinand, der nächste Gesangsschüler von Hilde-Heide Frohlaut auf seinen ersten grossen Auftritt.

«WUNDERBAR!» – raunte er Hugo zu.

«Ich habs versiebt», schnüffelte dieser.

Seine Freundin mit der Videokamera kam ihm entgegen: «GROSSARTIG HUGO – WIR HABEN SELTEN SO GELACHT!»

Auch Schubert lag mit Kopfschmerzen in der Gruft.

Montag, 18. August 2014