Vom Wunsch, im Rhein zu schwimmen

Illustration: Rebekka Heeb

«Sei kein Weichei – DU SCHAFFST DAS!»

Danke.

Das war mein Kameramann. Nico dreht wunderbare Filme. Seine Bilder sind süffig wie Himbeersirup.

Sein Herz ist es nicht. Das ist eine steinharte Pumpe.

ER QUÄLT SEINE ­PRO­TAGONISTEN WIE DER MARQUIS DE SADE SEINE STIEFELKNECHTE.

Nun will die Regie mich also in den Rhein jagen. Und das alles hat schon im vergangenen Jahr begonnen, als ich in einer schwachen Stunde vor einem noch schwächeren Latte macchiato mir nichts, dir nichts so dummes Zeug dahinplapperte wie: «Ich war noch nie im Rhein.»

Stille.

Dann: «Das glaube ich jetzt aber nicht. DU WARST NOCH NIE IM RHEIN?»

Es tönte, als ob der Papst seinen Bischof gefragt hätte: «Du hast nur eine einzige Goldkette?!»

FRAGEZEICHEN VERMISCHTEN SICH MIT AUSRUFEZEICHEN!!!???!!!

Nein. Ich war noch nie im Rhein.

Ich wäre immer mal gerne gegangen. Aber als Kind kam das eh nicht infrage, weil «igitt, igitt, und der ist ja so was von verschmutzt».

Meine Omi vom Kembserweg schilderte mir in drastischen Bildern, wie sie als pummelige Göre im einstigen Pfalz-Badhysli (das war eine Bade­anstalt direkt bei der kleinen Zehe des Basler Münsters) von Schwimmlehrer Hämmerli an eine Holzrute gebunden worden sei: «Also, du zappelst da wie ein Fisch, und so liess er dich ins Wasser runter … ICH KANN DIR SAGEN, WAS DA ALLES VORBEISCHWAMM, MACHTE NICHT DIE MINDESTE LUST, NOCH TIEFER EINZUTAUCHEN.»

Dramatisch erzählte sie von wüsten Kegeln, die auf den Wellen schaukelten. «Da gab es noch keine Kläranlage. Alles, ABER WIRKLICH ALLES, floss direkt in den Rhein.»

BEI DIESEM BILD HAT DAS KLEINE BUBENKIND ZÜNFTIG ÜBER DIE KUCHENTELLER GEKOTZT.

Und die Grossmutter schaute meinen Vater strafend an: «Der Kleine ist aber arg sensibel. Ihr solltet ihm mehr Eisen geben.»

Jahrelang war mein Bild vom Rhein mit diesen tanzenden Kegeln verbunden. Und die paar Verrückten, die sich «Eisbären» nannten und sich gar zur Winterszeit im vereisten Fluss jauchzend bachab treiben liessen – also solche Knall­tüten habe ich nur mild belächelt.

Damals hat mich auch Trudi Gerster zum ­Eintauchen überreden wollen – aber das war wie die Knusperhaushexe, die zu Hänsel schleimt: «Schau mal, wie schön warm der Ofen ist!»

NICHT MIT MIR!

Und plötzlich gingen immer mehr nicht ans Meer. Sondern rein in den Rhein.

Die beiden Ufer dies- und jenseits des Stroms sind zu einer Riviera geworden. Der Badestrand von Rimini ist ein Dreck dagegen. UND DAS IST ER!

Nach der grossen Chemiekatastrophe, als sich das Wasser blutrot gefärbt hatte und alle Rheinlebe­wesen totgeredet wurden, ja als da jeder gründlich über seine Bücher ging, klärte sich das Wasser auf wunderbare Weise auf. Es war fast bi­­blisch. Jedenfalls wurde das Tote wieder lebendig – und die rheine Badefreude neu entdeckt.

Heute herrscht totales Gerangel und Geschwummel in den Wellen – zwischen Birsköpfli und Johanniterbrücke meldet die Schweizer Verkehrszentrale mehr Stau als vor dem Gotthardtunnel beim Rückreiseverkehr.

EINE STADT GEHT BACHAB. Natürlich nur bei Sonnenwetter. Bei Regen schifft sie bachab. Und das kommt auf dasselbe raus.

Ehrlich – jetzt würde ich auch gerne mitschwimmen. Wenn ich die lachenden Gesichter sehe, die fröhlichen Baderatten, die da mit ihren bepackten Kunststofffischen vorbeiziehen – da überfällt mich eine leise Wehmut. Und MitSchwimm-Lust. Doch jetzt bin ich ein altes Wrack mit Übergewicht. Und so etwas zeigt man ja nicht gerne öffentlich herum. Sondern spart es sich für seine Liebsten und die Badewanne auf.

Deshalb: «Ich war noch nie im Rhein!»

Nico schüttelte den Kopf: «Den nächsten Dreh machen wir beim ‹Tinguely›. Du steigst dort in die Wellen. Ich schwimme mit – es kann dir nichts passieren!»

Da «der nächste Drehtermin» noch weit, weit weg lag, sagte ich Ja … Ja … Ja. Doch je näher der Termin – desto voller die Hose.

«Jetzt sei kein Frosch; beim Rheinschwimmen tauchen Tausende in die Wellen!», bellte der promovierte Kameramann bissig.

Aber als der Tag der nackten Wahrheit gekommen war, brachte der Fluss Hochwasser. Und Alarmstufe 3.

Am Tag vor dem Dreh war ich mit meiner Freundin Catherine im strömenden Regen am Rheinbord gestanden. UND WAS WIR SEHEN MUSSTEN, WAR NICHT ERMUTIGEND: Baumstämme jagten vorbei, Wasserwirbel höhnten mir entgegen: «Wir holen dich … wir holen dich!» Und sämtliche Enten retteten sich auf die obersten Holzbänkchen, weil die unteren längst unter Wasser standen.

Ich bangte.

«Und? Welche Blumen willst du aufs Grab?», fragte Catherine.

Deshalb: «Nico – es ist unmöglich. Selbst die Schiffe werfen das Handtuch und den Anker. Was soll da ein übergewichtiger Rentner in den Wellen …»

«WARMDUSCHER!»

Julchen, die zweite Kamerafrau, hatte ein Herz: «Ich habe schon mal die Polizei avisiert. Sie kommt mit zwei Rettungsschwimmern. Und einem Boot.»

Da schaukelten sie auch schon an. Doch als ich die Rettungsschwimmer sah, wurden meine Beine wie Pudding. Die durchtrainierten Herrschaften sahen aus wie ein Doppelpaket von Gummibärchen mit dem schneidigen Muskelpaket von Johnny Weissmüller in seinen tarzanigsten Zeiten.

«ICH GEHE REIN!» – schrie ich entfesselt zur Kamera. Warf den Bademantel weg. Und watete kniehoch ins Wunderbare.

«RAUUUUUSSSS! SOFOOOORT AUSSS DEM WAAAASSER», tobte es vom Polizeiboot.

«UMS HIMMELS WILLEN», schrien die beiden Gummibärchen.

Und «tu es, tu es!», brüllte Nico. Er hoffte meinen Tod bei den nächsten Gässli-Filmfestspielen vermarkten zu können.

In diesem Moment sah ich etwas Schwarzes, Undefinierbares. Es jagte die braunen Wasser­fluten runter. Ich musste an die Kembserweg-Omi denken. Und an ihre wüsten Schilderungen.

SO MACHTE ICH RECHTSUMKEHRT. UND SCHWANKTE ANS UFER ZURÜCK.

Die Gummibärchen gaben sich die Fünfe. Und atmeten erleichtert auf.

«Das waren doch nur ein paar Ästlein», tobte Nico.

«Ich weiss, was ich weiss», sagte ich eisig. Und verlangte einen Föhn.

Es wäre schön gewesen, aber: Ich war noch nie im Rhein.

Dienstag, 12. August 2014