Friedhof-Spaziergang

Sie schlenderten über den Friedhof.

Im Sommer, wenn die Sonne über der Stadt brütete, genossen sie den Spaziergang durch die Gräberreihen. Irgendwie vermittelten die Toten ihnen das Kühle zum Tag.

Walter stützte sich auf seinen Stock. Die Hüfte machte ihm zu schaffen.

Vor 18 Jahren hatte man das Gelenk operiert. Sie hatten – nachdem er die Schmerzen beim Gehen einfach nicht mehr ertragen konnte – einen Metall­ersatz reingeschraubt. Und ihm freundlich auf den Hintern geklopft: «Garantieren können wir gar nichts – vermutlich ist das Kunstgelenk nach 20 Jahren wieder abgelaufen … aber sie ­werden sehen: Der Schmerz ist weg!

War er auch.

Dafür klingelte Walter jetzt bei jeder Sicherheitskontrolle wie ein Warenhausdieb.

In Paris musste er sich gar – nachdem das Rotlicht geblinkt und die Anlage gebellt hatte – bis auf die Haut ausziehen.

«ES IST EIN KÜNSTLICHES GELENK – SIE RINDVIEH!», hatte Walter gebrüllt. «ICH BIN 79 JAHRE ALT. SEHEN SO DIE JÜNGER DER HAMAS AUS?»

Der Beamte hatte nur fies gelächelt. Und den Gummihandschuh angezogen…

Nun bereitete die Hüfte wieder Mühe. Deshalb der Stock. Und alle zehn Schritte eine Pause, deren Ursache er mit «ist die Sicht nicht herrlich?» zu bemänteln versuchte…

«Bei einem Auto würde man sagen: verschrotten. Und ein Neues kaufen …», meinte Walter nun bitter.

«Ach Walter …», zupfte ihn Elsie am Ärmel, «wir hätten doch zu den Totenkopfäffchen in den Zoo gehen sollen. Der Friedhof gibt dir stets den Gong …» Sie streichelte seine Wange: «… auch ein alter Rolls-Royce muss hin und ­wieder in die Revision. Und wird nicht gleich ­zermüllt. DU BIST DOCH MEIN WUNDERBARER OLDTIMER…»

«… bei dem der Gang klemmt!», knurrte der Altwagen.

Er war gerührt. Seine Elsie hatte schon zum dritten Mal den Herzschrittmacher ausgewechselt bekommen. Sie klagte nie.

Es stimmte schon: Frauen waren tapferer im Nehmen…

Sie gingen ein paar Schritte weiter.

«Fällt dir etwas auf?», fragte Walter nun ins Vogelgezwitscher.

Elsie blieb stehen.

«Ja. Die Rehe haben wieder die Rosenköpfe abgebissen. Da machen die Tierschützer immer so ein Trari-trara wegen der armen Rehlein und den bösen Jägern … und diese Biester fressen den Toten einfach ihre schönsten Rosen weg!» Walter schüttelte den Kopf. «Ich meine nicht das … schau dich um. Es sind viel weniger Gräber als früher…»

Tatsächlich waren viele Felder grün. Und leer.

«… da war doch immer ein Gerangel», fuhr Walter fort. «Erinnerst du dich, als Onkel Hubert starb und wir ein Grab kaufen wollten? Sie fuhren mit uns an die letzten drei Grabstellen. Und jetzt: Grossausverkauf…»

Elsie nickte. «Frau Balzli ist auch in den Baum gegangen…»

«WOHIN?!»

«In den Baum. Man kann sich die Asche heute in Baumlöcher streuen lassen. Auf diese Art ist der Tote immer mit dem Leben verbunden…»

Walter grinste: «Bis der Blitz einschlägt…»

Elsie schaute über die grünen Felder, die auf Kundschaft warteten: «Für Steinmetze ist das keine schöne Entwicklung. Und für Friedhofs­gärtner auch nicht. Nur der Kremationsofen dampft auf Hochtouren!»

Schweigend spazierten sie weiter.

Schliesslich blieb Walter stehen: «Kann man Metallhüften eigentlich einäschern…?»

Elsie seufzte.

Dann: «Also nächstes Mal gehen wir wieder zu den Affen…»

Montag, 28. Juli 2014