Von einem lauten Pianisten und «Netten Würgern»

Illustration Rebekka Heeb

«Sollten die nicht schon lange hier sein?!» – Innocent spielte an seinem Schlips. Dieser war rosa. Und sah aus wie das Halsgebinde vom aufgerüschten Osterhasen.

INNOCENT WAR SOMIT DAS RÜSCHENEI IM KUNSTGRASNEST.

Das Ei hatte keine Schokolaune. IM GEGENTEIL. DAS EINZIG ROSIGE WAR DER SCHLIPS.

Die herumwuselnden Kellner gingen ihm auf den Dotter: «Weshalb musst du auch immer solche Kästen aussuchen? Man benutzt hier die Finger nur noch, um Trinkgelder hinzublättern.»

«Du hast bis jetzt viermal 20 Cents verteilt», konterte ich bissig. «Und dann noch 10 Cents Rückgeld gefordert. Da musst du dich weiss Gott nicht wundern, dass wir beim Nachtessen in der hintersten Reihe sassen.»

Innocent schwieg gekränkt. Das mit dem Nachtessen hat ihn mitgenommen. Als der Oberkellner die rosa Schleife sah, schlug er die Augen himmelwärts. Und hoffte auf Gnade. Da ihm die nicht gewährt wurde, strafte uns dieser weissfrackige Armleuchter mit dem hintersten Tisch. Hautnah am Pianisten.

Der Tastenhauer war so einer mit einem Wippe-Schwänzchen.

Männer ab 25 sollten keine Schwänzchen haben. Dieser war hoch in den 70ern. Und hatte sein weniges Haar mit einem grauen Gummiband zusammengebunden. Keck wippte der Schütter-Schwanz zum Melodien-­Potpourri von «Anatevka–La-Bohème–Ave Maria». Das Schwänzchen jagte hin und her wie ein zerzaustes Eichhörnchen, das seinen Baum nicht finden kann.

O.K. – DER MUSIKER GAB SEIN BESTES. ER GING GAR EINIGE SCHRITTE ÜBER DAS BESTE HINAUS. ICH KANN EUCH FLÜSTERN: DER GUTE MANN HATTE SEINE BEIDEN FÜSSE DREI STUNDEN LANG PAUSENLOS AUF DEN PEDALEN.

Obwohl Innocent sämtliche Ohrenverstärker abstellte, jagte es ihn schier vom Sitz. DESHALB STINKLAUNE. Erst die zweite Flasche Wein, den sie hier Donna Fugata nennen, brachte etwas Linderung. Und dazu passend das musikalische Dessert: die Fuga von Bach.

«Den Espresso nehmen wir in der Hotelhalle», überbrüllte Innocent den Wahnsinn des Pianisten. Und floh.

La Fuga di Innocente, quasi …

Das Haus «Igiea» in Palermo am Hafen von Acquasanta ist einer dieser alten Kästen, wo der Jugendstil mit den Gästen Walzer tanzt. Die Zeit ist in den Kronleuchtern hängen geblieben.

Einst hat die berühmte Familie ­Florio aus Palermo hier gewohnt. Es waren reiche Weinhändler. Und das alleine schon hätte Innocent mit der Prunkhütte versöhnen sollen – aber nein. An allem und jedem dieser Weinfamilie fand er Zapfengeschmack.

Im grossen Salon hängt auch heute noch die Ölschwarte einer überlebensgrossen Jugendstil-Frau im weissen Abendkleid.

«Ist das Hulda Zumsteg?», machte Innocent den Kellner madig.

Der hob nur leicht die Braue: «Quest’è la Signora!»

Und Innocent: «Was Sie nicht sagen – ich dachte schon, es sei ein Transvestit!»

So sassen wir auch zum Frühstück in der hintersten Reihe.

Wir warteten also. Der Kellner balancierte ein Silbertablett mit hauchzarten Caffè-Tässchen an. Dazu fingernagelgrosses Marzipan-Konfekt.

Innocent schob sich gleich zwei rein. Und spuckte sie sofort wieder aus: «WIE STILVOLL. Selbst das Gebäck ist aus dem letzten Jahrhundert.»

Und dann wieder leicht klagend: «Die sollten doch schon längst da sein.»

Die – das waren unsere Freunde. Sie hatten in Basel ein Flugzeug bestiegen. Und hätten nach der Landung in Catania mit dem Bus anreisen sollen. Es waren Networker. Und immer wieder werde ich gefragt: Was heisst eigentlich «Networker»?

O.k. – die genaue Übersetzung heisst «Nette Würger». Und wenn mans genau nimmt, ist es eine wunderbare Gruppe von zumeist Männern, die sich für solche einsetzen und auch schon mal untereinander heiraten.

HABEN WIR UNS VERSTANDEN?

Davon waren nun 45 im Anmarsch. Oder eben gerade nicht. Denn schon blinkte Innocents Handy. Und er jaulte auf: «Die sind ohne Kleider.»

Es stellte sich heraus, dass «Air Berlin» die Koffer unserer Freunde irgendwo liegen gelassen hatte. Ich konnte mir vorstellen, wie nun die Gruppe, die sich vor der Landung noch für die lange Nacht zurechtgesprayt hatte, an Catanias Fliessbändern weinte. Und sofort nach Adressen mit offenen Boutiquen herumgoogelte.

ABER DAS WÜRDE EIN SCHLAG INS WASSER. UM ELF UHR NACHTS HABEN AUCH DIE LETZTEN LUMPENLÄDEN VON CATANIA DICHTGEMACHT!

Innocent rieb sich die Hände. Da einem im Alter als einzige Freude nur noch die Schadenfreude bleibt, hellte sich seine Laune nun merklich auf: «Jetzt stell dir vor – die kommen morgen zum Galadinner und haben nur ihre Nike-Turnschuhe und die Puma-­Shorts am Ranzen!»

Ich simste sofort an Angelo, den Reiseführer, um die Panik zu beheben: «Alles kein Problem – wir haben zwölf Koffer mit frohen Outfits dabei. Dazu 18 Sonnenbrillen. Wir leihen gerne etwas aus.»

SMMM … SMMMM … SMMM.

Das Handy vibrierte aufgeregt:

«SOO LIEB – IHR HABT EIN GROSSES HERZ, ABER NICHT UNSERE GRÖSSE!»

Ach Gottchen – mit einem eleganten Strassgürtel und ein bisschen gutem Willen kann man(n) auch mit Grösse 36 eine 58er-Hose zu einem netten Gehkleid zusammenschnurpfen.

«Das ist ein Tag!», erhob sich Innocent plötzlich bestens gelaunt. Ging auf die Restaurantterrasse zurück. Und steckte dem Oberkellner eine Note zu. Dann noch eine: «Bringen Sie dem Pianisten ein Gläschen, damit er etwas mehr Dampf aus den Tasten haut.»

Am andern Tag hatten wir einen Tisch in der ersten Reihe.

Manchmal kann er ein richtiges Stinktier sein.

Dienstag, 22. Juli 2014