Von einer schlaflosen Nacht und Rock in Syrakus

Illustration Rebekka Heeb

Irgendwie wollte ich es Innocent zeigen. Der aber bockte wie ein alter Gaul: «Alle sagen, es sei dreckig. Und sie würden die Esel als Salami verkaufen.»

«GOTT, BIST DU BLÖD!»

«Ich weiss das aber von meiner Tante Gustel, die noch vor Mussolini dort war. Und Tante Gustel hat immer gesagt, sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie die Esel zwischen zwei Panini-Scheiben geklemmt hätten.»

«DEINE TANTE GUSTEL WAR DOCH SCHON HINÜBER, ALS SIE AUF DIE WELT KAM! HAT SIE IHRE KATZEN NICHT ALLE MIT ROSA BABYFINKCHEN HERUMHINKEN LASSEN!»

Da wurde er aber fauchig: «Nichts über die Gustel. Sie ist die Einzige, die mir im Leben etwas wirklich Grosses hinterlassen hat.»

Gustels grosse Hinterlassenschaft war ein alter Brienzer Holzsekretär, auf dem ein Hobbyschreiner folgende Worte eingeschnitzt hatte: «Am Anfang stand Gott und die Arbeit.»

Dies in Blockschrift. Buchstabe für Buchstabe. Und jeder Buchstabe so gross wie eine Tafel Cailler-Nuss.

An so einem Pult musste Innocent dann das Einmaleins büffeln – will sagen: mit Gott und der Arbeit über seinem karottenroten Bubenhaar.

Heute bekommen junge, etwas lernfaule ­Schüler diese lustigen, kleinen Pillen eingetankt. Die frohe Chemie soll ihre Ganglien zum Tanzen bringen. Und sie glücklich machen. FRÜHER? – EIN HÖLZERNER GOTT UND DIE ARBEIT.

Ja soll sich da noch einer wundern!

Aber der liebe Gott hat die Gustel schwer für ihr Hartgeschnitztes büssen lassen: Dreimal musste sie aus ihrem Grab im Entlebuch umziehen. Zweimal Erdrutsch. Einmal Überschwemmung der Kleinen Emme.

SIE FAND KEINE RUHE NICHT.

Erst als wir – auf kartengelegtes Anraten von Mike Shiva – das Möbel endlich verholzten und die Buchstaben einzeln im Kaminfeuer lodern liessen, da kam die Sonne über Gustels Tal. Und die Tante durfte in der Kiste liegen bleiben.

«UND DANN DIE MAFIA …», Innocent hauchte es so vorsichtig um sich blickend wie mein Vater, wenn er im Restaurant seinen Sohn über vaginale Lüste aufklären wollte.

«Ja und? Die ist doch überall. Wenn bei uns einer von der XY-Partei seinem XY-Freund aus demselben Polit-Block eine preiswerte Staats­wohnung oder einen Departements-Job zuschanzt, ist das auch Mafia!»

Dann wurde ich um einen Zacken fortissimo: «Ich will jetzt nichts mehr hören. SIZILIEN RUFT!»

ES WAR NÄMLICH SIZILIEN, DAS ICH INNOCENT ZEIGEN WOLLTE.

Es gab drei Pluspunkte, mit denen ich den sturen Bock weichklopfte: das traumschöne Theater Bellini in Catania, wo erstmals die Norma ihre Casta Diva sang, der einäugige Zyklop, der in blinder Wut mit schwarzen Lavafelsen nach Odysseus’ Paddelboot geworfen hatte, und die abgeschnittenen Busen der heiligen Agathe, welcher die Sizilianer heute noch in der üppigen Verbindung von Biscuitkuchen, dicker Vanillecreme und Marzipanmantel huldigen.

Doch Pech: Bei der Oper streikte die Pförtner-Gewerkschaft, sodass wir nicht rein konnten.

Das mit dem Zyklop stellte sich als griechisches Märchen heraus.

Und von Agathas Marzipanküchlein wurde es Innocent so schlecht, dass er zwei traurige Stunden kiesend vor der WC-Schüssel kniete. Die Pasticceria beim Dom hatte nämlich versprochen: «Wer sechs schafft, bekommt das siebte umsonst!»

Muss ich noch mehr sagen?

Als erste Etappe hatte ich Syrakus ausgewählt. Es ist weiss Gott ein zauberhafter Ort.

Einer meiner sizilianischen Freunde hatte mir das Hotel mit dem vornehmen Namen «des Etrangers» empfohlen. Es wird dem Namen auch mehr als gerecht: very strange!

Innocent war schon auf hundert, als er neben dem Bett keine Steckdose für seine Apnoe-Maske fand. Er bellte die ganze Concierge-Crew zusammen. Fauchte die geplagten Menschen an, er lasse sich für so einen Wucherpreis nicht zum Affen machen. Und verlangte nach einer hotelgerechten elektrischen Fünf-Sterne-Einrichtung.

ES WAR EINER DIESER MOMENTE, WO SICH DIE MENSCHEN NEBEN IHM SEHR EINSAM FÜHLEN.

Ich zog stumm Leine. Tastete mich über Handy an meinen Freund Umberto heran. Und schrie nun laut um Hilfe.

SIEHE DA – ES WAR AUSGERECHNET UMBERTOS KOTZRÜBE LUCIA, DIE SICH UNERWARTETERWEISE ALS NÜTZLICH ERWIES.

Sie hat einen Vetter, der eine Schwester hat, deren Sohn mit der Tochter eines Handwerkers befreundet ist, der wiederum mit der Receptionistin eben jenes erwähnten Hotels eine Dreierbeziehung (der dritte ist ein Dobermann) führt.

So kommt es, dass wir unsere Koffer in einen andern Flügel wechseln durften. Dort ging die Aussicht allerdings nicht aufs Meer, sondern direkt in einen Liftschacht, aus dem leicht säuerliche Muschelwolken nach oben stiegen. Und weil es uns stank, sind wir hurtig aus dem Liftschacht-­Apartment zum Aperitif entflohen.

Wir haben Syrakus und seine 100 000 Touristen aus dem hohen Norden (die hier alle der Stadtheiligen Cäcilia huldigen) lieben gelernt – und wir haben schliesslich todmüde nach viermal einem «Halbeli», Wein, den sie hier Donna Fugata nennen, unsere Betten aufgesucht.

DOCH DAS WAR DANN DER TOTALE SCHOCK.

DIE BUDE LAG NÄMLICH AN DER WAND EINER DISCOTHEK. UND DIE ROCKTE SICH BIS ZUM ERSTEN HAHNENKRÄH EINEN RUNTER.

Innocent nahm einfach seine Stecker aus den Ohren und fragte: «Was iss?»

Er hörte nichts. Und pennte glücklich ein, wobei er mir vorher die Hand tätschelte: «Tante Gustel hatte total unrecht – Sizilien ist wirklich ein Traum!»

Ich träumte nicht – sondern ich dachte acht Stunden lang bei pochendem Hardrock in den Löffeln über den hölzernen Spruch «AM ANFANG STAND GOTT. UND DIE ARBEIT» nach.

Dienstag, 1. Juli 2014