Chat-Room

Noch zehn Minuten bis Feierabend. Ernst spürte die innere Unruhe. Bald würde er zum ersten Mal Lulu treffen.

VERMUTLICH EIN RIESENFEHLER…

«Kommst du auf einen Drink?» – Seine Kollegen begossen am Freitag jeweils das bevorstehende Wochenende mit einem Bier.

Die Frage wurde nur aus Nettigkeit gestellt. Jeder wusste: Ernst ist ein Einzelgänger.

Er schloss seinen Metallspind auf. Rasch wechselte er das T-Shirt gegen ein blaues Hemd. Dann band er sich eine Krawatte um – blaue Tupfen von Givenchy.

Im Innenstadt-Café erkannte er Lulu sofort.

Sie sah aus wie auf all den Bildern, die sie ihm auf seinen Bildschirm gebeamt hatte: mollig, weiche Kinnpartie. Die Haare zu einem Knoten gesteckt.

«Ich hätte Blumen mitbringen sollen», dachte Ernst. Und lächelte Lulu zu: «Es ist schön, dass du gekommen bist…»

Ihre grünen Augen («teeblattgrün» hatte sie in ihrem Profil angegeben) funkelten: «…unser erstes reales Rendez-vous. Hoffentlich bist du jetzt nicht enttäuscht?»

Er nahm ihre Hand. Sie war nass.

Sie kannten einander seit sechs Jahren. Ernst war Junggeselle. Er tat sich schwer mit Frauen. Hemmungen. Schweissausbruch. Manchmal brachte er kein Wort heraus. Da kam ihm das Internet recht – hier konnte er à distance loslegen. Und mit irgendwelchen Gleichgeschalteten über seine Probleme reden.

Sein Vater hatte ihn als Kind geschlagen. Wenn er nicht spurte, sperrte er den Kleinen in den Keller.

Darüber schrieb Ernst als «Pegasus 2» im Chat-Room.

Ein Psychologe («Mabuse 4») riet ihm, mehr ins reale Leben hinauszutreten. Und sich unter Menschen zu mischen: «du sonderst dich sonst von der welt ab – vergiss den Vater.»

Da hatte sich erstmals Lulu gemeldet:

«ich wurde als kind auch von meinem vater geschlagen – zumindest wenn ich nicht tat, was er wollte…»

Grosses Fragezeichen. WAS WOLLTE ER VON IHR?

Niemand wagte zu fragen. Auch ein Chat-Room ohne Wände hat seine Grenzen.

Lulu und Pegasus 2 tauschten die privaten E-Mail- Adressen aus. Sie waren nun ganz unter sich. Und so wuchs eine Freundschaft – eine distanzierte Beziehung, alles über Tasten. Aber ohne Tastsinn.

Tag für Tag fuhr Ernst vom Geschäft sofort nach Hause. Er fuhr den Computer hoch. Und hatte Herzklopfen, wenn Lulu schrieb:

«bist du online?»

Er fühlte sich glücklich in diesem Leben mit dem bläulichen Bildschirm.

Und mit der virtuellen Freundin, die ihm von ihrem Alltag schrieb:

«…heute sind sie an der kasse wieder schlange gestanden, und ich musste auf meine pause verzichten…»

Sie arbeitete in einem Supercenter. Pegasus 2 hätte sie nach einem solchen Tag am liebsten in die Arme genommen. Aber er wusste: unmöglich. Die Realität würde alles zerstören – ganz so wie etwa bei «Queen 3» (beim Treffen hatte er sich nach 20 Sekunden schon gefragt, was er an dieser Zicke je habe interessant finden können). Und auch bei «Feuervogel» brachte das Meeting die eiskalte Ernüchterung: ein Kerl, der als «Feuervogel» seine weibliche Seite ausgelebt hatte.

«Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht…», wiederholte Lulu.

Er wusste nichts zu sagen.

Er wusste nur, dass es vorbei war – wie im Märchen, wo man das verschlossene Zimmer nie betreten durfte, weil dann der Zauber verloren ging.

Pegasus 2 schrieb noch vier Mal an Lulu. Dann war die Verbindung gelöscht.

DELETE-TASTE.

Und «off».

Montag, 2. Juni 2014