Von Linda und ihren wunderbaren Geschichten

Sie stand vor der Türe.

Spindeldürre Beine. Eine braune Perücke, die etwas schief stand. Und eine ­dampfende Marlboro im Mundwinkel.

«Ich sein Linda …»

Sie war dunkel. Nicht nachtschwarz. Aber eben so interessant anders, dass ich sie als Erstes fragte: «Woher kommen Sie?»

Ihre Augen blitzten wie das Gewitter über dem Pilatus: «AUS DEM BAUCH MEINER MUTTER!»

HOPPLA – da wusste ich: war falsche Frage!

Viele Jahre später hat sie bei derselben Frage, die ihr einer meiner Benefizdinnergäste gestellt hatte, diesem vor die Füsse gespuckt.

Da hatte ich ja noch Glück gehabt.

Linda schob mich aus dem Türrahmen. Betrat meine Wohnung. Und knurrte neben der ­Zigarette: «Ist Saustalliges hier… SCHEISSKERL! Ist Zeit für Linda!»

Dann kippte ihre Asche. Mit dem spitzen ­Stiefelende rieb sie diese in den neuen ­Spannteppich. «Ist gut gegen Mottiges…», sagte sie.

Ich war knapp 20 Jahre alt. Hatte meine erste Wohnung. Und das Lamento meiner gluckenden Mutter hinter mir: «O.K. DU WILLST DEINE ­FREIHEIT… DA KANNST DU SCHAUEN, WER IN DER FREIHEIT DIE FENSTER PUTZT!»

Meine Unabhängigkeit artete bald einmal zu dem aus, was Linda sofort richtig taxiert hatte: «SAUSTALLIGES!»

Natürlich hätte ich mir eine Putzperle gar nicht leisten können. Ich steckte in der Ausbildung, besuchte die Journalistenschule und hatte schon Mühe, mit dem Honorar von «Vereinsberichten» den Mietzins zusammenzukratzen. Deshalb: «Ich kann 100 Franken aufwerfen… kommen Sie, wann immer Sie wollen. Aber nie, wenn ich daheim bin. Ich bin allergisch gegen Staubsaugergeräusche…»

Sie kam jeden Tag. Und sie staubsaugte nie. Doch wenn sie da war, war die Welt wieder in Ordnung.

Linda wurde so etwas, wie eine Ersatzmutter für mich.Wenn gar nichts mehr im Küchenschrank und die Kasse leer war, kochte sie uns Reis. Es war das Einzige, das sie kochen konnte. Reis natür. Wir haben die ersten Jahre nur Reis natür gegessen.

Linda war gespickt mit den herrlichsten Geschichten. Sie sprach mit Geistern. Und immer wenn ich heimkam, brannten zwei Dutzend ­Kerzen. «Für die Toten», wie sie sagte.

Meine Mutter betrachtete ihre Rivalin misstrauisch.

«Das ist doch nichts!», wetterte sie beim ersten Besuch. Und schaute Linda spöttisch an. «Sollen das saubere Fenster sein?»

«LECK MICH!», war die Antwort. Und zum ersten Mal meines Lebens sah ich Mutter sprachlos.

Zwischen den beiden entspann sich kein ­Honeymoon. Es war konstant Kalter Krieg.

«Das Weib sein Chanel-5-Rassistin!» – zischte Linda.

«Sie hat noch nie eine Stunde geputzt!», wetterte Mutter.

Das musste Linda auch nicht. Sie richtete mir das Leben. Wurde eine Freundin. Und das war mehr als blitzblanke Fenster. (Allerdings litt der neue Spannteppich sehr unter ihrer «Asche gegen ­Mottiges»…) Linda wurde der wunderbare ­Farbtupfer in meinem Leben.

Sie war immer für eine Überraschung und 100 Geschichten gut – wie damals, als wir an einem Wirtschaftsessen meines Onkels ­Nudelstadt den rumänischen Wirtschaftsminister zu Besuch hatten. Und sie ihm beim Abräumen die Fischgabel mit «DU TROTTLIGES!» wegnahm, «NICHT WISSEN, WIE ESSEN FISCH MIT ­RICHTIG BESTECK!»

Als Innocent in unser Leben tauchte, musterte sie ihn kritisch. Und gab mir bei Tee und Schnaps ihr Urteil ab. «Wir bleiben Armiges … der nix rückig raus mit Geld!»

Sie war eine prima Menschenkennerin.

Als aber Innocent auf einer «echten» Putzfrau bestand, machte Linda auf Krise. Und sprang über ihren ­eigenen Schatten. Sie alarmierte meine Mutter: «Die wollen werfig Geld aus Fens­trig, wo nicht geputzt…!»

Es war der richtige Ton, um meine Mutter anfahren zu lassen. «DAS KANNST DU LINDA NICHT ANTUN…!»

«Ich tue ihr gar nichts an. Sie bleibt wie immer. Und geputzt hat sie eh nie. Das macht jetzt eben die Neue! Linda ist ihr CEO.»

Sie nutzte die Vorherrschaft unglaublich aus. Die künftigen Putzperlen, die unter Linda die Klinke wechselten, erwartete eine eiserne Herrschaft. Sie jagte die armen Dinger herum, wie der Feldweibel die Rekruten. Und meine Mutter nickte anerkennend. «ALSO KOMMANDIEREN KANN SIE!» Eines Tages habe ich Mutter mit Linda in der Küche getroffen. Die beiden hatten eine der ­besten Flaschen von Innocent geköpft. Und waren nicht mehr ganz nüchtern.

«Sie hat mir geschenkt ihr schweres Goldkette … hat gesagt, ich sei dein gutes Ersatzmutter… und immer soll aufpassen auf ihr Sohn!» – Linda hängte sich strahlend die Kette meiner Mutter um.

Drei Tage später fiel Mutter in ein Koma, aus dem sie nie mehr erwachte.

Als sie starb, sass Linda am Küchentisch. Und hatte eine Kerze angezündet: «War gutes Frau. Totes immer bei uns…»

Viele Jahrzehnte später ist auch Linda als ­80-Jährige nach einem Tramunfall in ein Koma gefallen. Und daraus nach einigen Monaten ­wieder erwacht. Sie war jetzt eine alte Frau. Manchmal erkannte sie mich. Manchmal nicht. Walter, ihr Freund, der sie ein Leben lang ­begleitete, pflegte sie liebevoll.

Vor Weihnachten habe ich die beiden besucht. Linda schaute mich lange an: «Ich kenne dich…» Dann zu Walter: «Wer ist dieses Scheisskerl?»

Das war meine gute, alte Linda.

Als Walter mich vor ein paar Wochen anrief, Linda sei in seinen Armen gestorben, zündete ich eine Kerze an: Die Toten sind immer bei uns.

Dienstag, 22. April 2014