Marie liebte Ohren.
Sie war da besessen.
Oder eben mit dem gestraft, was ein Psychiater als «sexuell fehl- und ohrenorientiert» in seiner Diagnose festgehalten hatte.
Mimmi Huber, die Mutter des beissenden Ohrwurms, streckte dem Seelenklempner weinend zwei Teddybären entgegen. Dort, wo die Öhrchen hätten keck rausstehen sollen, rieselte das Sägemehl. Die Bären guckten jämmerlich und gar nicht bärenstark in ihren Alltag.
«SCHAUEN SIE NUR! WAS SOLL ICH MIT MARIECHEN TUN? – HELFEN SIE IHR, HERR DOKTOR!» – so weit Mamma Mimmi.
«Kalte Bäder!», verordnete der Psycho. Er war einer der Freud’schen Art.
So wuchs Marie zum grössten Teil in Badewannen mit Kaltwasser auf. Wen wunderts, dass sie in Ermangelung von warmer Liebe die Kuscheltiere an sich drückte. Und denen in Verzweiflung die Ohren abbiss. Die Tiere konnten so nicht einmal mehr für den Rot-Kreuz-Basar weitergegeben werden – ohrlose Plüschmäuse wollte niemand. (Auch nicht preiswerte.)
Im Kindergarten ging sie dann den jungen Buben an die Ohren. Zuerst tat sie nett und so, als ob sie mit ihnen Doktor spielen würde – dann aber schnappte sie aus heiterem Himmel zu.
«SIE HAT WIEDER INS OHR GEBISSEN!», verpetzten die kleinen Weicheier Marie brüllend bei der Kindergarten-Tante.
«Aber, aber Myggeli …», seufzte diese. Und stellte Marie in die Ecke, wo auch ein wunderbar geschnitzter Holzbär stand. Myggeli rapste sofort an seinem Ohr. Da nannten sie dann alle: das Ohren-Myggeli, was in der Stadt, in der Maria aufwuchs, nicht nur eine Krankheit war, sondern später gar der Name für einen Fasnachtsmarsch werden sollte …
Man weiss nicht, ob es an den kalten Bädern lag: Maries Interesse am Ohrenbeissen flammte nach einer stark pubertierenden Phase ab. Ihr Interesse zum andern Geschlecht jedoch blieb. Und dort galt «Ohren-Myggeli» bald einmal als sicherer Wert.
«Sie hats drauf», flüsterten die Studenten untereinander.
Und wenn sie denen mit der Erfahrung einer Könnerin an die Löffel ging, quiekten die Burschen vor Vergnügen. Sie wechselten Marie erst aus, wenn sie zu heftig in die Läppchen biss. Läppische Kleingemüter, eben.
Die Ehe mit Karl-Heinz war gut. Zuerst standen ihm bei Maries Ohrnuggelkünsten alle Armhaare hoch. Und Marie war klug genug, dies auszunutzen und ihren Beisszwang zu kontrollieren.
So stand lange vieles zum Guten, und ihre Mutter wurde Mimmi-Omi – Grossmutter von sechs frohen Enkelkindern.
Marie biss nur noch heimlich zu – ins Kissen. Oder auch mal in einen Hundeknochen.
Karl-Heinz ahnte nichts von den geheimen Wünschen seiner Frau – insbesondere, da ihr heisses Ohrgeflüster mit den Jahren verstummte. Und liebem Händchenhalten Platz machte.
Einmal nur horchte Karl-Heinz auf, als der Schwergewichtsboxer Myke Tyson 1997 seinem Gegner Evander Holyfield das Ohr abbiss und Marie im Fernsehsessel in Ekstase «Yeeeeahhhh!» schrie.
Marie war übrigens auch eine klare Verfechterin der These, der Maler Vincent van Gogh habe sich das Ohr nicht selber abgeschnitten – sondern sein Freund Paul (Gaugin) habe da in Eifersucht zugebissen.
Vor einer Woche nun hatte Karl-Heinz eine Riesenladung mit Oster-Süssem für die Enkel heimgeschleppt: «Es war Aktion. Und wir haben 14 Nestlein zu richten …»
Der Schock sass tief, als er später die Türe zum Vorratskasten öffnete: «MARIE!»
Er holte entsetzt Luft: «MARIE!! – Du kannst doch nicht 14 Schokohasen einfach die Ohren abbeissen …!»
Doch. Konnte sie.