Downsyndrom

Ilse streichelte Lucie: «Ich lasse dich nie alleine, mein Mädchen.»

Lucie lachte hell auf.

Lucie war ein glückliches Kind. Auch noch mit 54 Jahren.

Mit 43 Jahren war Ilse endlich schwanger ­gewesen. Der Arzt warnte: «Das Kind könnte ein Problem sein.»

Max und Ilse hatten sich jahrelang ein Kind gewünscht. ENDLICH MEINTE ES DAS SCHICKSAL GUT.

WO WAR DA DAS PROBLEM?

«Es ist anders», sagte die Krankenschwester traurig, als sie Ilse das Mädchen in die Arme drückte. «Man nennt es Downsyndrom …»

Ilse weinte zwei Tage. Und zwei Nächte. Die Krankenschwester versuchte sie zu trösten.

«Die meisten werden keine 18 Jahre alt …»

Da heulte Ilse noch mehr.

Max nahm sie in die Arme: «Wir schaffen das, Ilse!»

Der Anfang war schwer: die mitleidigen Blicke der Nachbarn. Die Verwandten, die nichts zum Kind zu sagen wussten. Eine Umgebung, die befangen und unbeholfen reagierte.

Ilse zog sich von ihrer alten Welt zurück. Und in die neue mit dem Downsyndrom ein.

Max war keine grosse Hilfe.

Irgendwie genierte er sich für seine kleine Tochter. Minutenlang stierte er sie an. Und in seinen Augen war dieses stille Entsetzen, das Ilse so schmerzte.

Als Lucie zehn Jahre alt war, verliess ihr Vater die Familie: «Ich kann einfach nicht mehr, Ilse – verzeih mir!»

Ilse wars recht. Ihre ganze Liebe hatte sich jetzt eh dem Kind zugewandt.

Lucie war für ihre Mutter eine Lebensaufgabe geworden. Mehr: Lucie zeigte ihr die Welt auf eine eigene, kindlich-fröhliche Art.

So konnte das Mädchen auf Spaziergängen vor einem Garten stehen bleiben und «daaa … daaaa» blabbern. Erst jetzt entdeckte auch Ilse den Marienkäfer auf dem Sonnenblumenblatt.

Lucie zeichnete gerne. Die Bilder waren von unglaublich starker Farbenintensität. Einmal malte Lucie ein Herz in Regenbogentönen. Hinter dem Herzen ging eine goldene Sonne auf – «Lucie und Mamma» strahlte das Kind.

Ilse lebte in der Angst, ihr wunderbares Mädchen früh verlieren zu müssen.

Die Worte der Krankenschwester pochten ihr noch immer in den Ohren: «Sie werden keine 18 Jahre alt …»

Der Arzt beruhigte sie: «Lucie entwickelt sich wunderbar. Und wir haben heute gute Medikamente. Machen sie sich keine Sorgen!»

Die Verwandten und alten Freunde hatten keinen Platz mehr in Ilses Leben. Sie hatten sich langsam zurückgezogen: «Die arme Ilse … wirklich bestraft mit ihrer kleinen Lucie – sie hat kein ­eigenes Leben mehr.»

DAS WAR PURER UNSINN.

Ilse hatte ein n e u e s Leben. Und sah Lucie als Geschenk, als Bereicherung darin. Sie spürte, dass «ihr kleines Mädchen» das Grau dieser Welt mit seiner kindlichen Seele aufhellte – mit einem Gemüt, das weder Neid noch Hass kannte.

Manchmal, wenn Ilse die Zeitungen durch­blätterte, lächelte sie versonnen vor sich hin. Und sie stellte sich vor, wie viel schöner, friedlicher und fröhlicher eine Welt mit dem Downsyndrom wäre.

Als Max starb, hatte er Ilse so viel Geld hinter­lassen, dass sie mit Lucie gut leben konnte. Die Furcht, ihr Mädchen früh verlieren zu müssen, war mit den Jahren verflogen.

Sie machte einer neuen Angst Platz: Ilse war jetzt 88 Jahre alt. Sie schaffte es einfach nicht mehr – aber was würde mit Lucie?

Als die Polizei die Türe einbrach, fand sie Mutter und Tochter auf dem Bett liegen. Eng umschlungen.

Am Boden lag eine Zeichnung:

Eine Sonne, die hinter einem Regenbogen-Herzen aufgeht …

Montag, 24. März 2014