«Kommst du mit?» – Cécile wartete unter der Türe. Ihre drei Enkelkinder zerrten an ihrem Mantel: «Beeil’ dich, Omi – es geht los.»
Sie trugen Kostüme – von Cécile geschneidert. Dazu Karton-Masken, die sie im Kindergarten gebastelt hatten.
«Ich kann mit diesem Fasnachtsmist nichts anfangen!» – Kurt war schlechter Laune.
Immer an einer Fasnacht war er miesepetrig. Er fühlte sich ausgeschlossen. Jenseits einer Welt, die total verrückt geworden war.
Er hatte eine Fasnächtlerin geheiratet. Cécile. Sie pfiff in einem Schyssdrägggziigli – «die Gschtrubbledde», so nannten sie sich.
Ein lächerlicher Name – fand Kurt. So wie er alles, was sich da um Fasnacht abspielte, einfach nur «grotesk und irrational» fand.
Schon vier Monate vor der Fasnacht gehörte Cécile nicht mehr Kurt. Sie war nur noch für ihre Clique da. Am Esstisch diskutierte jeweils an einem Montag eine Gruppe von Weibern über ein hirnverbanntes Sujet; sie konnten sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Walter fand dies alles «absolut nicht lustig». Also ging er zum Türken. Und ass einen Döner.
Drei Monate lang ass er montags Döner. An den drei sogenannten «tollen Tagen» wars am schlimmsten. Einmal nur war er am Strassenrand gestanden, um die «Gschtrubbledde» zu sehen – nie im Leben hatte er sich so ausgeschlossen gefühlt, wie damals, als sie an ihm vorbeiparadierten. Kaum Luft zum Grüssen hatten. Und Cécile nur rasch das Piccolo schräg vom Mund abhob, um anzudeuten, dass sie Kurt wahrgenommen hatte …
IN JENEM MOMENT FÜHLTE ER SICH VON DER WELT VERLASSEN. ALLEINE. UNSAGBAR TRAURIG.
Cécile gab ihr Fasnachtsleben auf. Sie war eine sensible Frau. Und konnte Kurt nicht leiden sehen. Erst mit ihren Enkelkindern lebte ihre Vergangenheit wieder auf. Sie organisierte ein «Ziigli» für die Kinderfasnacht. Und nannte das Grüpplein «Nuggikätscher».
«Total stumpfsinnig», kommentierte Kurt.
Nun stand er vom Sofa auf. Und schüttelte sich wie ein alter Hund. Er musste hier raus. Die Decke fiel ihm auf den Kopf.
Er mied die Stadt. Ging in ein Quartier, das vom lauthektischen Fasnachtstreiben verschont blieb. In einer Spunte kehrte er ein. Bestellte ein Bier. Und wurde zehn Minuten später prompt von einer weissen Maske angemacht: Die Erscheinung war vermummt – selbst die Finger steckten in Handschuhen. Immerhin konnte Kurt einen ziemlich üppigen Busen unter dem Satinstoff ausmachen.
Er wusste nicht weshalb – aber er ging mit der Maske weg. Sie führte ihn in eine baufällige Wohnung. Holte einen billigen Schaumwein aus dem Eiskasten – ohne die weisse Larve je vom Kopf genommen zu haben.
Dann köpfte sie die Flasche. Und Kurts Innenleben bebte: «Was tue ich eigentlich hier?»
Endlich hob sie die Maske: Ein schwarzes Gesicht lächelte Kurt traurig an: «Enttäuscht? Aber Fasnacht ist die einzige Möglichkeit, aus meiner Haut zu schlüpfen … vermummt bin ich wie die meisten hier. Unscheinbar. Nicht ausgestossen. Und in einer Welt, zu der ich sonst nicht gehöre …»
Kurt reagierte wie unter Trance. Sie lagen zusammen auf ihrem Bett. Er hörte ihre Geschichte. Wie sie früher als Prostituierte ihr Geld verdient hatte. Und ihre beiden Kinder grosszog. Diese würden in Zürich studieren – und hätten ihr eigenes Leben.
«So bin ich doppelt alleine», sagte sie. «Und nie bin ich einsamer als an einer Fasnacht. Kannst du das verstehen …?»
Kurt konnte es verstehen.
Sie streichelten einander die Hände. Und lagen eine Stunde auf dem alten Bett.
Als Cécile spät am Abend mit den Enkeln nach Hause kam, nahm sie Kurt in die Arme.
Sie schaute unsicher in seine Augen: «Was ist los?»
Er streichelte ihr Haar. «Ich bin so froh, dass ich dich habe …»