Maria legte den Telefonhörer auf.
Sie war kalkweiss.
Und sie spürte, wie ihr Herz raste.
«Bleib cool, Mädchen», sagte sie zu sich selber.
«Mädchen» war relativ. Maria bezog immerhin schon 15 Jahre die AHV.
30 Jahre lang hatte sie hinter der Bühne gestanden – an ihrem linken Handgelenk das Nadelkissen. In der Bluse steckten die Fäden bereits eingefädelt.
Eigentlich war sie Sekretärin. Aber Nähen hat ihr immer mehr Spass gemacht. Und als sie damals in der Komödie eine «Garderobiere für hinter der Bühne» suchten, meldete sie sich. Und blieb – bis der letzte Vorhang fiel.
Zur Fasnachtszeit schneiderte sie Kostüme. Immer für dieselbe Clique. 43 Stück! Maria liebte ihre Clique – lächelte über die Tambouren, die beim Massnehmen den Bauch einzogen. Oder über die Pfeiferinnen, die ihr zuflüsterten: «Könntest du es mir bitte auf Taille schneiden.» Mit bald 80 Jahren war sie noch mit Leib und Seele Fasnächtlerin. Allerdings – wie schon im Theater – im Hintergrund. Nicht im Rampenlicht.
Nun das Telefon: «Maria – du darfst es uns nicht übel nehmen. Wir haben ein ganz spezielles Sujet. Wir lassen die Kostüme aus China einfliegen …»
AUS CHINA!
Zuerst hatte sie einfach geheult. Für sie wurde es keine Fasnacht, wenn sie vorher nicht an der Maschine rattern konnte. Sie war stolz auf ihre Kostüme gewesen – jedes reine Haute Couture. Selbst ihre Enkel hatten die bunten Hosen und Röcke an den Kleiderbügeln bewundert: «Du bist einfach cool, Omi … da ist jedes Exemplar ein Meisterstück.»
UND JETZT CHINA!
Sie beruhigte sich in ihrem Gemüsegarten. Das Anpflanzen von Tomaten, Erdbeeren, Salaten war ihr zweites Hobby. Zwar waren die Beete noch braun und grau – aber Maria nahm sich einen Stuhl. Setzte sich an die erste Frühlingssonne. Und stierte zum Garten von Donika hinüber, ihrer Nachbarin aus Kosovo.
«Du traurig!» – konstatierte diese.
Holte sich einen Stuhl. Und hockte neben Maria: «Leben oft traurig.»
Maria erzählte Donika ihren Kummer.
Die nickte: «In Migrationskurs wir viel über Fasnacht gehört. Fasnacht lustig und traurig – wie Leben. Einige Migrantenfrauen nähen Kostüm für Cliquenleute – ist beste Zeit in Jahr. Irgendwie wir gehören alle jetzt zu Gastland … nicht mehr fremd …»
«Verstehst?»
Maria verstand.
Mit dem Kostümnähen hatte auch Maria «dazu»-gehört. Und nun hatte man sie wie einen Faden abgeschnitten.
Eine Woche später nähte Maria mit zwölf Migrantinnen aus aller Welt in einem Hinterhofatelier die schönsten Kostüme. Olga, eine russische Ingenieurin, führte sie in die Arbeit ein: «Du wirst sehen – macht grossen Spass!»
MEHR – ES MACHTE FREUDE!
Zusammen mit den Frauen stand Maria dann am Strassenrand, um die Cliquen vorbeiparadieren zu sehen. Immer, wenn eine «ihrer» Gruppen auftauchte, klatschten die Schneiderinnen in die Hände. Und strahlten. Die Tambourmajoren erwiesen ihnen die Reverenz – und die Trommler und Pfeifer winkten den Frauen zu.
Schliesslich sperrte Maria die Augen weit auf: «Dort kommt meine Clique in den Kostümen vom letzten Jahr …»
Der Trommelchef kam auf sie zugewatschelt. «China war alles fünf Nummern zu klein. Wir mussten auf dich zurückgreifen, Maria … dürfen wir nächstes Jahr wieder …»
«Ich nähe jetzt mit 14 Kolleginnen zusammen … alles Freundinnen», lachte Maria.
Donika drückte ihr einen Mimosenzweig in die Hände: «Goldblumen … bei uns sie bringen Frühling und Glück!»
«Ja», strahlte Maria, «bei uns auch!»