Annes Maske

Anne setzte sich die Larve auf.

Sie schaute in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Und sie lächelte – ein Lächeln, das die Larve verbarg.

Sie schlüpfte an der Porte vorbei auf die Strasse. Es war kalt.

Und natürlich war es auch unsinnig für eine 93-jährige Alte in einer Eisnacht im leichten Morgenrock herumzuhühnern. (Einen Morgenrock bekam sie seit 15 Jahren immer von ihren beiden Töchtern unter den Christbaum gelegt – «Was sollen wir dir denn sonst noch schenken?», fragten sie jeweils.)

Die ersten Trams fuhren stadteinwärts.

Anne hatte kein Billett. Aber sie war der Meinung, dass Masken Narrenfreiheit hätten – auch im Tramverkehr. Als Kind schon hatte sie davon geträumt, an einen Basler Morgestraich zu gehen – an die Fasnacht. Mitten ins Leben, das 72 Stunden lang Leben sein durfte.

NATÜRLICH GING SO ETWAS NICHT.

Denn sie war die Tochter eines protestantischen Pfarrers.

Und «dem Teufel vom Karren gefallen» – so lamentierte jedenfalls die Mutter, als das sechsjährige Mädchen ihr erklärte, sie wolle auch mittrommeln.

Als sie älter wurde, verdammte Anne ihr asketisch protestantisches Umfeld. Sie wäre gerne zur katholischen Kirche übergetreten – dort war alles sinnlicher. Prunkvoller. Üppiger.

Selbst an der katholischen Fasnacht lachten die Gläubigen. Sie tanzten ausgelassen miteinander. Schürten die Glut eines heissen Flirts.

Bei Anne jedoch hiess es: «Das tut ein guter Christenmensch nicht.»

Man stellte sie einem deutschen Prediger vor. Und meinte: «Der ist gut für dich…»

So zog sie weg aus der Schweiz.

Sie wurde Mutter von zwei Töchtern – und brave Ehefrau in Bamberg.

Anne träumte von einem ausgelassenen Leben. Von Abenteuern. Sex mit wilden Strolchen. Und einem Besuch an der Fasnacht.

Aber Anne trug brav die Maske der netten Predigerfrau. Sie engagierte sich in der Frauengruppe.

Und war berühmt für ihre Anisbrote, die sie am Advents-Bazar zugunsten der Waisen im Ort verkaufte.

Es gab kein Internet, wo sie sich auf einem Chat-Kanal austoben konnte. Es gab nur die Sehnsucht. Und Annes Maske.

Wie alles in seinem Leben war auch der Tod des Predigers unspektakulär. Grippe. Lungen­entzündung. Und ab ins Grab.

Anne verliess Bamberg und die Frauengruppe. Sie fuhr in ihre Heimatstadt zurück. Liess ihre Töchter bei ihren deutschen Männern. Und genoss einen winzigen Hauch von Freiheit.

Schon bei ihrem ersten Flirt funkte es. Sie war bereits stark in den 60ern – er knapp 80. Nach drei Wochen zog sie bei ihm ein. Einen Monat später hatte er einen Schlaganfall – und Anne ihn somit am Hals.

«Du kannst mich doch jetzt nicht verlassen», jammerte er.

«Nein», seufzte sie.

Und pflegte den Alten, bis er mit 94 mit dem Rollstuhl die Treppe runterbretterte.

Ihre Kinder redeten jetzt ein Machtwort. Und mit dem Verwalter eines Altenheims. Seither sass sie dort in ihrem Zimmer. Wartete auf den Schluss. Und hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, weshalb sie ein Leben lang nie hatte die Maske fallen lassen.

Der kroatische Pfleger hat ihr dann die Larve geschenkt: «Ist fröhlich Gesicht – damit Frau Anne lachen!»

Und nun stand sie also auf dem Marktplatz. Fror. Und weinte unter dem Lachen.

Sie starb drei Tage später an einer Lungenentzündung.

Unspektakulär. Wie der Prediger.

Aber – im Gegensatz zu ihm – mit einem Lächeln.

Montag, 24. Februar 2014