Der Anruf

«Bitte wer? Bitte was?»

Annetrudy stierte nach der schlaflosen Nacht leicht genervt auf den Telefonhörer. Sie hatte nach dem Frühstück vergessen, die Hörapparate in die Löffel reinzustecken.

«MOOOMENT!» – brüllte sie in die Muschel.

Annetrudy ging ins Badezimmer. Und knübelte die Soundverstärker ins Ohr.

«Also – was ist los?»

Eine seltsame, etwas zu hohe Männerstimme rief: «HELLO OMI – HELLO!»

«Falsch verbunden!», knurrte Annetrudy.

Sie wollte eben aufhängen, da quiekte es: «Nix falsch gebundig … ich sein gutes Kind von deines liebes Sohn Kirk … hat Liebes gemacht mit meines Mum aus Kerala … Mum tot. Ich hier … du mein Oma in gut Schweiz.» – ABER HALLO!

Annetrudy war nicht blöd. Im Club der Grauen Panther hatte man sie auf ähnliche Anrufe vorbereitet: SOFORT TELEFON 117!

«Ich weiss, du glauben guter Sim sein Gauner … aber deines Enkel gut Mann … dein Sohn ist miesig Schweinigkerl, weil abgehaut als mit Mummy fuckfuck …»

Annetrudy lachte höhnisch auf: «QUATSCH KEINE OPERN! KIRK WAR SCHWUL WIE DIE NACHT … nix fuckfuck mit Mummy …»

«Ohhh», kreischte es jetzt aus dem Hörer. «Liebes Daddy Kirk doppeldeckerig …»

Nun atmete Annetrudy tief durch. Wie ein Film jagten die letzten 70 Jahre im Zeitraffer vorbei: Mädchen aus gutem Haus … alles mit Stil und ohne Gefühl … sie heiratete Albert, einen Chemiker … Vernunftehe … nichts Berauschendes …Kirk war ein lieber Junge. Als er sich outete, stand sie zu ihm … sein Vater begann aus Kummer zu trinken. Weniger weil sein Sohn sich als Drag Queen das Zubrot verdiente. Vielmehr weil ihm der Chemiekonzern nach der Fusion gekündigt hatte. Ihr Alter starb an einem Leberversagen … der Sohn wanderte nach Indien aus.

INDIEN! – ER WIRD DORT NICHT ETWA? –

Fragen konnte Annetrudy ihren Sohn nicht mehr – nach zwei Jahren Indien war Kirk, der sich in einem Kochi Night Club als «Kirkina la Reine des Serpents» einen Namen gemacht hatte, an einem Kobrabiss verschieden.

Wie gesagt – Annetrudy war nicht blöd, und dieser Sim klar ein Betrüger. Andererseits war ihre Neugierde geweckt: Wie er wohl aussehen würde? – Vielleicht doch eine Ähnlichkeit mit Kirk?

Als ihr zwei Stunden später der schwarze Mann beim Tee gegenübersass, konnte Annetrudy beim besten Willen nichts Gemeinsames mit ihrem Sohn an ihm entdecken. Gut. Der Junge wirkte auch etwas weibisch. Aber er war äusserst charmant. Und hatte ihr ein Salatbesteck aus Kokosnussschalen mitgebracht.

«Ich froh bei Omi bleib …», strahlte Sim, «ich will studier Sozialig-Wissenschaft, weil ist gutes Beruf … und Sozalig-Arbeiter gut Mensch mit frohig Seel und viel Geld verdient … ich dann in mein Heimatort indisch Menschig helf, und Omi kommen leb mit Sim bis zu frohes Tod …»

Im Club der grauen Panther hyperventilierten sie. ABER TOTAL! – Annetrudy müsse umgehend die Polizei einschalten und …

Annetrudy dachte nicht daran.

Zwar war sie sich jetzt ganz sicher, dass Sim n i c h t ihr Enkel sein konnte. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben amüsierte sie sich bestens. Sie konnte wieder durchschlafen. Und hörte besser. Als Sim den Sozialarbeiter-Master geschafft hatte, verkaufte Annetrudy ihr Haus am Nonnenweg. Und baute sich einen prächtigen Bungalow in Kuarakom.

Ihr Enkel machte der Omi Ayurveda schmackhaft. So lebte sie noch gute vier Jahre.

An ihrer Einäscherung weinte Sim: «Ist meines Omi in Nirwana jetzt wie miesig Schweinehund Daddy …»

Dann kaufte er sich ein Flugticket in die Schweiz. Und rief eine ältere Dame in Rheinfelden an: «Hello Omi – HELLO!»

Montag, 10. Februar 2014