Das Quartett

Lucie hielt die Hand von Max.

Aus dem Ess-Saal hörte man den Handorgelspieler. Die Alten hatten ihre Silvesterhütchen auf. Und wackelten zu der Polonaise-Melodie „Heute hau’n wir auf die Pauke “ um die Tische.
„Gottlob muss ich das nicht haben“, hustete Lucie.

Max drückte ihr die Hand: „Du versprichst, dass du bis zum Schluss bei mir bleiben wirst, Lucie…“

Sie drückte die Hand zurück:“ Ich bin da, Max…und grüss mir die beiden“. Sie lachte leise auf: „Mit Tom wirst du sicher gleich kegeln gehen – und Ruth hält ihr „Filet im Teig“ für dich bereit. Himmel, was würde ich dafür geben, wieder einmal Filet im Teig anstelle dieser pürierten Altenküche essen zu können…“

Schon in der Schule waren die vier befreundet gewesen. „Das Quartett“ – so hatte man sie genannt.

Ein Leben lang hatten sie Freude und Leid geteilt. Max und Ruth waren an ihrer Seite, als die Kinder von Lucie und Tom bei einem Autounfall ums Leben kamen. Auch später als die Grosseltern die kleine Waise Lilli aufziehen musste.

Das Quartett hatte sich alle Sorgen geteilt – dann fielen die ersten Blätter ab. Zurück blieben Lucie und Max.

Wieder seufzte Lucie auf. Sie dachte an den Heiligen Abend. An den Krach, den sie mit Lilli gehabt hatte. Und alles nur, weil sie ihre Zunge nicht im Zaun halten konnte.

Ihre Enkelin hatte Pizza aufgetischt - PIZZA AN EINEM HEILIGEN ABEND!

„Bei uns gab’s immer Filet im Teig“, hatte Lucie spitz bemerkt.

„Du hattest ja auch keine 4 Kinder!“ kam es giftig zurück.

Lucie verliess wortlos die Wohnung ihrer Enkelin. Bis heute hatte sie nichts mehr von Lilli gehört.

Von unten erklang „so ein Tag, so wunderschön wie heute…“.

„Meinst du ich sollte nochmals Pillen nehmen…?“, fragte Max.

„Nein“. Lucie drückte ihm wieder die Hand, „Es ist die richtige Dosierung…“

Der alte Mann flüsterte: „Wir waren ein gutes Kleeblatt, Lucie…es tut mir leid, dass ich nicht mehr kann…schaffst du es alleine?“

„Ich war stets die Zäheste von uns vier“ hustete die Frau erneut. „Mach‘ dir keine Sorgen…“
Er schwieg einen Augenblick. „Soll ich Tom etwas ausrichten…?“

Lucie schaute etwas unsicher zu Max. „Er soll die Sache zwischen mir und Lilli wieder in Ordnung bringen …e r war stets der Harmonie-Süchtige in der Familie“.

Als die Kirchenglocken das neue Jahr begrüssten, war Lucie alleine. Sie hielt noch immer die Hand des Toten. So fand sie Frau Hofer, die Leiterin des Altersheims am späten morgen:
„Frau Böhni…“ rief sie völlig entnervt, „“wir suchen sie seit Stunden überall. Ihre Enkelin wurde alarmiert. Sie ist ganz aufgelöst im Ess-Saal…“ Dann sah Frau Hofer den Toten neben Lucie: „Oh Gott..“, stammelte sie.

Später fiel Lilli ihrer Grossmutter um den Hals. Sie weinte, dass es sie schüttelte. „Ach Oma…ich habe mir so grosse Sorgen um dich gemacht…“

Als sie in Lillis Wohnung ankamen, umtanzten die Urenkel die alte Frau. Von ferne hörte man Donnergrollen. Lucie schaute aus dem Fenster: „Seid Ihr schon beim Kegeln?“, lachte sie zum Himmel.

Ihre Enkelin blickte auf: „Hast du etwas gesagt, Oma?“.

Lucie streichelte ihr das Haar: „Ja - dass das Neujahrsgewitter sich verzieht…“

Lucie eilte in die Küche: „Es gibt Filet im Teig…“

„Danke“ flüsterte Lucie zu den Wolken. Doch diese zogen eben davon. Und machten einer strahlenden Neujahrssonne Platz…

Dienstag, 31. Dezember 2013