Wie Mutter Pierens Albertli unter den Tisch soff

Als meine Mutter Pierens Albertli unter den Tisch soff, hatte sie zwei Flaschen vom Weissen «Eidechsli» sowie 14 Stämpeli Bätziwasser intus.
Ihr Hütchen, so ein Pillbox-Dingelchen mit Schleier und einem Strassknopf, wie es die Weiber damals trugen, als es ihnen Audrey Hepburn bei ­Tiffany vormachte, ihr Hütchen also war keinen Millimeter verrückt.
Sie liess den goldenen Verschluss ihrer Kroko-­Handtasche (trug frau damals noch, weil Krokodile böse Tiere waren) zuschnappen ? dlagg! Dann fixierte sie Pierens Albertli, der unter dem Tisch lag: «Ich glaube, damit ist der Deal perfekt, Albert ? wir treffen uns bei der Notarin in Frutigen.»
Mutter hatte dann allerdings einige Mühe, meinen Vater, der ebenfalls unter den riesigen Holztisch in Pierens Bauernküche gerutscht war und in seinem Vollrausch lamentierte, es sei ihm wie in einer ­Parallelfahrt auf zwölf Achterbahnen und er wolle jetzt lieber auf der Stelle sterben als zur nächsten Fahrt einsteigen ? kurz: Die Gattin hatte da alle Hände voll zu tun, um ihren Alten nach Hause zu schleppen. Aber die Familiensaga sagt, dass sie mit ihm auf dem Buckel und dem Hütchen (unverrückt) auf dem Kopf gut im Chalet der Trachsels angekommen sei. Mutter habe zwei Alka-Seltzer ins Glas mit dem Adelbodner Wasser geworfen. Und sich sofort ans Zeichnen eines ­Chalets gemacht ? eines Chalets, dessen Grund und Boden sie sich eben ersoffen hatte.
Mein Vater war nicht nur wild auf Frauen ? er war auch bergsüchtig. Die Welt redet immer von Heroin- oder Crack-Abhängigen ? nun lasst euch aber sagen, dass die Schlimmsten diejenigen sind, die sich mit glasigen Augen an den Berg ranmachen. Wie in Trance riskieren sie ihr eigenes Leben (auch das der Rettungsleute), setzen das Glück der Familie aufs Spiel ? UND ALLES NUR, UM SICH IRGENDWO IN EINEM GIPFELBUCH EINZUTRAGEN: «Hier war Hans ? Sommer 1953.»
ABER HALLO ? WAS SOLL DER MIST, WO UNS DAS LEBEN DOCH SCHON FRÜH DEN KOPF WÄSCHT UND SAGT: nie zu hoch hinauswollen!
Da mein Vater also jede Jungfrau besteigen musste und auch vor dem Mönch nicht haltmachte, wurde die Sache für seine Nächsten doch etwas kritischer, als er immer wieder von der Eigernordwand redete.
Die Nordwand war damals ein Mythos. Die legendäre «Spinne» hatte Dutzende von verrückten Alpinisten gefressen. Nur wenige wagten sich an den Berg. Vater aber schaute ihn jeweils aus dem Grindelwalder Chalet stumm an ? na ja, wie ein Dackel die Wurst in der Metzgerauslage.
Mutter erhöhte daraufhin die Lebensversicherung ihres Mannes. Und beschloss, sich in Adelboden nach Land umzuschauen. Sie wollte von Grindelwald weg und am Kuonisbergli ein Chalet bauen. Man hatte ihr gesagt, dass der höchste Berg in jener Region Wildstrubel heisse und gar für übergewichtige Kinder «leicht machbar» sei.
Sie rief also meinen Primarlehrer Ruppli an: «Mein Sohn weiss jetzt, wie man?SUSI ISS MUS MAMMA SUMSUM? und?KUH MACHT MUH? schreibt. Er braucht Praxis. Und ich nehme ihn zwei Monate aus der Schule, damit er die Kühe und Susis Mus in natura kennenlernt.»
Beim Schreiner von Adelboden, dem alten Trachsel, mieteten wir eine Wohnung. Jeden Tag stiefelte Mutter durch die verschneiten Felder, um nach einem geeigneten Bauplatz zu suchen. Einmal wurde sie von einem bärtigen Mann, der auf einem Stück Tabak herumkaute und es gelbbraun aus den schrägen Mundwinkeln tropfen liess, angemacht: «Bisch du schon esmaal dur üüsi Wiid dürhi ggangä?»
Mutter war es nicht gewohnt, von fremden Männern geduzt zu werden. Aber sie hatte eine Nase fürs Geschäft. Deshalb lächelte sie den Alten freundlich an: «Das machen wir doch gleich gemeinsam? es wird mir eine Ehre sein, lieber Bauer!»
So krachselte sie mit Pierens Albertli durch den Hochschnee, und das Albertli hat später immer wieder erzählt, dass das «Dunners-Wybi es guets Schütti» Glück gehabt hätte, weil der Eugschter-Thomas sie nicht abgeschossen habe, in diesem seltsamen Wildsaupelz, den das Lotti getragen habe.
Natürlich wars nicht Wildsau. Sondern Biber. Und auch das durfte man damals noch, bevor die Schreier- und Sprayerei «DU BIST EINE TIERMÖRDERIN» losging.
Mutter war von der Weide beeindruckt. Und kam gleich zur Sache: «Ich kaufe sie dir ab.»
«Das geyht netti.»
Sie musste erfahren, dass die Familie dem Ur-Grossvater auf dem Totenbett geschworen habe, nie nur ein winziges Stück Land zu verkaufen.
«Ich brauche nur ein ganz, ganz kleines Fleckchen ? für ein Chalet, so klein wie meine Hand­tasche da und?»
«Eh du mynheilige Troscht!», rief das Albertli erschrocken, als es Mutters Krokodil-Handsack sah.
Jedenfalls war er aber vom «Stadtwybervulch» so angetan, dass er die «gueti Frou» und ihren Mann zu einer Röschti, welche sein Weib, d Leene, noch auf dem Holzfeuer bräteln würde, einlud. Und obwohl Mutter sich mit ihrem Schleierhütchen etwas deplatziert am Teller vorkam, erklärte sie später, es sei die beste Rösti ihres Lebens gewesen und sie habe tatsächlich viermal geschöpft. Das habe sie später gerettet, als s Albertli sie unter den Tisch trinken wollte. Nachdem der nämlich bereits einen gewissen Pegel intus hatte, machte er Mutter den Deal: «I verchoufe dir äs Fäzi Land, wenn de bim Suffe mithoute chasch.»
Die Rösti, von der die bauerneigene Butter triefte, gab einen wunderbaren Boden. Und da Mutter eh gut geeicht war, kennt ihr jetzt die Geschichte: Die ganze Bande lag unter dem Tisch. Und Mutter klackte das Krokodil zu: «So. Das wars.» (Siehe Anfang der Geschichte.)
Manchmal, wenn ich heute ganz alleine auf dieser Kuhweide vor dem Winzighäuschen sitze und die herrliche Aussicht geniesse, winkt mir Marianne, die Enkelin des Albertli, zu. Dann kommt sie mit der Heugabel angeschlurbt: «S Lotti u dyner Dättel wurde sich wääger beed froije, ass es dir so gfautt.»
Ich schaue dann zum Wildstrubel, der Vater die Nordwand ersetzt hat. Und blinzle zum Schneegipfel, wo die beiden wohl irgendwo als helle ­Sommerwolken herumgeistern.
«Gibts bei euch heute Rösti?», frage ich Marianne.
Sie benutzt zwar einen Glasplattenherd mit Induktion. Und ihre Kinder spielen während des Essens Horror-Games auf dem Handy.
Aber irgendwo in dieser modernen Bauernküche steckt hinter den schwedischen Einbaukästen noch immer die hochprozentige Geschichte vom «Basler Wyybervoulch und wie es die Mannsbilder unter den Tisch gesoffen hat».

Dienstag, 6. August 2013