Von züngelnden Leguanen und dem Wunder der Mayas

Chichén Itzá ist gross. Na ja, jedenfalls grösser, als ich gedacht habe. Die alte Tempelstadt mitten im Dschungel von Yucatan hat einen Durchmesser von gut zwei Kilometern. Stein für Stein ist Geschichte. Dies unter glühender Sonne. Und mit dem Baedecker in der Hand.
ICH MEINE, ICH HABE SCHON IN DER SCHULE BEI HERA UND ZEUS MÜHE GEHABT.
Der nette Herr Hammermeier, der diese Reise zu den Mayas zusammengewürfelt hat, schickte uns direkt an den Rand des Geschehens. Wir schliefen im Dschungel? und als die Morgenröte mit Rosenfingern erwachte (HEEE? AUCH MAL IN DER ODYSSEE VON HOMER GESTÖBERT?!), wie also das erste Licht durch die Palmenblätter und Rhododendren funkelte, standen wir schon auf der Matte. Und machten uns auf den Weg in die Vergangenheit.
Schmetterlinge, gross wie Dessertteller und blau wie das Kleid der Königin der Nacht, gaukelten um die Bäume. Vögel, bunt, als hätte sich der Regenbogen auf ihr Fiederkleid gelegt, pfiffen sich munter eins? und Innocent war ganz verklärt über so viel Idylle: «So muss der liebe Gott das Paradies gemeint haben. Ich kann hier sogar die Vögel pfeifen hören. Sie artikulieren besser als in Europa.»
Ach, er war so glücklich. Da liess ich ihm das Glück. Obwohl es nur die Hörapparate waren, die um die Wette pfiffen. Es war halb sieben Uhr in der Früh. Und am Kassenhaus zu den Ausgrabungen war noch kein Wärter. Dafür hockte da ein gähnender Leguan, der aussah wie eines dieser entsetzlichen Gummitiere, die man im Scherzlädeli für fünf Franken kaufen und den Omis ins Bett legen kann. Ausser diesem Nervenkiller aus der Urzeit, der uns live wie argwöhnisch beobachtete, wie wir ohne Tickets ins Ausgrabungsfeld eindrangen, waren da nur die Götter der Mayas. Und die sah man nicht. Man ahnte sie nur.
Innocent hatte sich natürlich schlau gemacht: «Die Leguane sind noch älter in ihrer Geschichte als die Krokodile...»
«Aha...»
«Die Mayas haben in ihnen den Teufel gesehen und sie heiliggesprochen...»
«Aha? meine Mutter hatte mal ein paar Pumps aus solchem Leder, und ich hätte schon als Kind gerne so ein Handtäschchen gehabt...»
NA JA, IHR KÖNNT EUCH VORSTELLEN, WIE ER REAGIERTE: SOFORT AUF HUNDERT. DABEI WARS EIN WITZCHEN. ABER BEI KULTUR IST MIT IHM FERTIG LUSTIG!
Überdies war er vor fast einem halben Jahrhundert mal hier in der Gegend gewesen. Das hörte ich nun jede Minute. Bei jedem Schritt stiess er Kennerrufe aus, welche das Kultur-Ei zu seiner Seite krass ins Offside stellten: «... jetzt haben sie das auch ausgegraben... das war vor 50 Jahren noch nicht da!»
Er zeigte auf seltsame Hütten und Bretterverstrebungen. Und er wurde die Schnellbleiche aus dem Rowolt-Führer «Chichén Itzá? das Wunder im Dschungel? 3. Auflage» im Zeitraffer los. Worte wie «toltekische Stämme... Quetzalcoatl... Chichanchob» pfiffen mir wie Schrotgeschoss um die Ohren. Das Netteste war «Chcichimeken». Ich vermute nun mal, dass dieser Volksstamm der Vorreiter der Chickimickis von heute war.
DOCH GENUG GESCHERZT.
Auf dem grossen «Ballspielplatz» klatschte Innocent in die Hände. Und die Akustik war so grossartig, dass man die Architekten der Schauspielhäuser alle mal nach Chichén Itzá prügeln sollte.
Mutterseelenalleine pilgerten wir hier durch die Geschichte dieses Volkes, das plötzlich verschwand. Und uns nur seine dunkle Schokoladenbohne zurückgelassen hat.
PLÖTZLICH ERHOB SICH EINE DÜSTER-DUNKLE WOLKE ÜBER DER KUKULCAN-PYRAMIDE.
«Die Götter zürnen», wisperte ich, «du hättest ihnen das Eintrittsgeld doch berappen sollen!»
ES WAREN ABER NICHT DIE HIMMLISCHEN. NEIN. Es war pünktlich um acht Uhr, als die Touristenscharen in klimatisierten XXL-Cars und mit Milliarden von Fotospeicherkapazitäten anfuhren. Und wie durch Zauberhand verwandelten sich diese Bretterverschläge, die Innocent noch eine Stunde zuvor als «kostbare Architektur aus der Calakmul-Epoche» taxiert hatte, in grellfarbene Souvenirstände, die antike Frösche aus chinesischer Neuzeitmassenproduktion feilhielten.
Die Sonne begann ein bisschen sehr stark unsere nackten Oberarme zu bräteln, als Innocent auf die grösste der Pyramiden zeigte und den Marschton aus seiner Militärzeit durchgab: «Schritt voran. Dort gehen wir jetzt rauf!» ICH FLEHTE DIE GÖTTER DIESES VOLKES AN? EIN VOLK, DAS UNTEREINANDER ÜBRIGENS SCHON DAMALS IMMER ZOFF HATTE, WIE HERR BLOCHER MIT DEN BASLERN IN DER HEUTEZEIT? UND SIEHE DA, SIE HATTEN EIN EINSEHEN FÜR DEN ÜBERGEWICHTIGEN IRDISCHEN, DEN DAS SCHICKSAL MIT PLATTFÜSSEN GESTRAFT HAT: So zogen sie hurtig dicke Seile um alle Sehenswürdigkeiten, sodass die Pyramiden punkto Besteigung so tabu waren wie einst die Jungfrauen, die man dem Regengott unverbraucht in den Brunnen geworfen hat. «Vor 50 Jahren bin ich da noch raufgestiegen», tat Innocent grossartig. Ich schwieg. Und dachte an seine Kniegelenke aus Hartstahl.
Eine Alte, verrunzelt wie ein liegen gelassener Apfel, bot mir gestickte Servietten an. Sie zeigte im wehklagerischen Singsang ihre verstochenen Fingern. Und ich verstand soviel, dass sie 296 Kinder durchzufüttern habe.
NUN HABE ICH SERVIETTEN FÜR 180 PERSONEN. UND DAS, OBWOHL WIR KAFFEETRINKER SIND. Innocent explodierte wie die Vulkane, die hier mal Dampf abgelassen hatten. Und ein Leguan, der die Sonne auf einem Abfallkübel genoss, streckte mir die Zunge heraus. Irgendwie steckt da auch heute noch der Teufel drin.

Samstag, 26. März 2011