Wenn die Stimmung gereizt war und zwischen den Tanten die Luft so knisterte, dass das Ganze als Hochspannungsfeld drei Weltstädte mit Strom hätte versorgen können, wenn also nicht nur die Engelein, sondern auch die Tassen flogen und statt Harfenhalleluja arg grobe Töne Dezemberalltag wurden? ALSO DANN WAR SIE DA, DIE SCHÖNE VORWEIHNACHTSZEIT.
Die lieben Eltern gaben ihr Bestes. Sie versuchten dem Nachwuchs mit Tonnen von Adventskalendern, geheimnisvollem Rumdüsen («Was wohl in diesem Geschenkpaket sein mag?») und Glimmer auf der Fensterbank («Herrjeh? das Christkind war da und hat wieder mal kontrolliert, wo die lieben Kinder wohnen») eine Oh-du-fröhliche-Adventszeit aufzurüschen.
Aber sie übernahmen sich. Oft machten sie einfach des Guten zu viel. Sie heizten die Erwartungshaltungen derart hoch, dass der abrupte Absturz bei der Tanne vorprogrammiert war. Und so lagen schon 20 Tage vor dem Halleluja-Fest die Nerven blank.
UND GANZ BESONDERS, WENN MAMMA AUF DIE FRAGE «WAS WÜNSCHST DU DIR DENN ZU WEIHNACHTEN?» IHREN MUTTER-TERESA-BLICK AUFSETZTE UND: «NUR DASS IHR BRAVE KINDER SEID!» SÜLZTE.
Da hätte sie sich aber auch etwas Billigeres ausdenken können. Brave Kinder waren zu meiner Kinderzeit so kostbar wie heutzutage persischer Kaviar oder ein Garagenplatz in der Innenstadt.
Im Nachhinein muss ich aber sagen, dass die Adventszeit mit ihren Spannungen und dem obligaten Krach vor dem Schüüfeli-auf-Bohnen-Essen («Ist das nicht das handgestickte Tischtuch von Oma?? also eigentlich gehörte dies ja in unsere Familie!») durchaus auch Wunderbares brachte: herrlich mundender Teigabfall am «Gutzele»-Nachmittag... die ersten Mandarinen von Santiglaus (Herr Gygax, unser Hausmeister in der Trämler-Pellerine meines Vaters)... das Weihnachtsmärchen «Peterchens Mondfahrt», wo Trudi Gerster von schweren Drahtseilen hochgehievt als Maikäfer durch die Luft jagte.
ICH MEINE? WIR WAREN DAMALS NOCH WEIT VON FLIEGENDEN AFFEN IN SPUTNIKS ENTFERNT UND SO WAR EIN HERUMHAMPELNDER KÄFER AUF DER THEATERBÜHNE EBEN DIE SENSATION .
In Ermangelung eigenen Nachwuchses mit Herrn Innocent versuche ich Jahr für Jahr, diese Zeit neu aufleben zu lassen. UND MACHE IHN ZUM KIND.
Andersrum: Ich schmücke das Heim mit Ästen und Lichtern. Fackle Kerzen ab und baue Erdnussberge hoch. Ein Spray versprüht Tannenduft vom Feinsten. Und das ist auch nötig. Denn Innocent sieht in der Vorweihnachtszeit ganz andere Dinge als Zuckerplätzchen und Feenhaar? ER RUFT DIE SAISON DER LICHTLEIN UND JINGLE-BELLS-MELODIEN ZUR KOMMUNEN FONDUEZEIT AUS. Ich meine: so ein Käse!
Jeden Abend bröckelt er sich diese blassgelbe Käselauge ein. UND WIE DAS STINKT, WEISS MAN JA. So ist die Stimmung schon gereizt, noch bevor das Bäumchen geschmückt ist. Ein Käseadvent ist nicht der Vorfreude-Weihnachtsmonat meiner Kinderzeit. UND WER ZWINGT MIR JETZT DIESEN GESTANK AUS DER STUBE UND DIE FREUDE INS HERZLEIN ZURÜCK? Meister Proper versagt. Und der Duftspray gibt sein Bestes. ABER ES IST WIE IN DER POLITIK? DER KÄSE HAT IMMER WIEDER OBERHAND!
Jeden Abend probiert Innocent Neues aus: mal mit Vacherin, mal mit Schabziger. Doch als ihm sein Walliser Militärfreund Heinz-Albert das Kanonier-Geheimrezept des Artillerieregiments 23 durchgab und empfahl, die Brotbrocken mit Knoblauchzehen zu ersetzen, da hatte ich die totale Krise. ALS HÄTTE ICH MIT MEINEN NEUEN VERLEGERN NICHT SCHON GENUG STURM UND DRANG AM HALS!
Immerhin? vor vier Tagen hat Innocent sein Portemonnaie und Geberherz geöffnet. Mit spitzen Fingern zupfte er sorgfältig einen Zehnerschein aus dem Notenfach: «Hier. Kauf all unseren Patenkindern ein schönes Geschenk. Immerhin ist Weihnachten. Aber das Restgeld bringst du zurück!»
Ich habe daraufhin auf den Zehnfrankenschein noch einen Zweifränkler draufgelegt und mir in einem Café zwei Espressi geleistet. Dann habe ich die Kreditkarten zum Vibrieren und Innocent zum Hyperventilieren gebracht. Die vielen Geschenke in meinem Schlafzimmer sollten ihn auf frohe und mutige Gedanken bringen. Und diese Gedanken mögen in der Frage gipfeln: «Was soll denn dir das Christkindlein zu Weihnachten bringen...?»
Die Liste mit diversen Wünschen sowie ein neuer Rolex-Katalog liegen griffbereit.
ABER STILLE. NUR STILLE. UND FONDUEGESTANK.
Schliesslich ergreife ich die Initiative. Drehe gottergeben einen Käsebrocken in der blubbernden Tunke und sülze: «Was wünschst du dir dieses Jahr auf Weihnachten...»
Schweigen. Kauen. UND DIESER UNSÄGLICHE DUFT VON AUFGWEICHTEM KNOBLAUCH MIT KIRSCH...
Dann Mutter-Teresa-Blick. Und: «Dass du ein bisschen vernünftiger wirst...»
Ich werde ihm eine Fonduegarnitur von Versace kaufen!
Von Vorweihnachtszeit und Krisen
Samstag, 11. Dezember 2010