In Adelboden reden sie vom Jahrhundertwinter.
Tatsächlich ist alles so weiss wie frisch mit Dash gewaschen.
Es ist, als würdest du durch Türchen Nummer 5 in eine Adventskalender-Landschaft hineinspazieren... Der Engstligenbach gurgelt zwischen verschneiten Steinen hindurch. Manchmal lässt ihn die klirrende Kälte zu durchsichtig eisigen Skulpturen erstarren, die aussehen, als hätten die Glasbläser von Baccara Vernissage.
Die Tannen bücken sich schneeschwergebeugt ins Wasser? und über allem liegt dieser verzückte Zauber eines Berliners, der fingerdick mit Puderzucker überschneit worden ist.
Seit Weihnachten: Traumwetter... Traumschnee... Traumlandschaft.
Täglich keuchen die tomatenroten Autocars vollgespickt mit frohen Sportskanonen die Serpentinen von Frutigen bis zum Busbahnhof hoch. Vor 50 Jahren noch ist meine Familie jeweils im alten Peugeot hochgekurvt. Und bei jeder dritten Biegung kam der Ruf von hinten: «HANS? HALT AN. DAS KIND MUSS!»
Das Kind musste immer. Es war keine frohe Sportskanone. Nein. Es würgte sich von Frutigen Dorf bis zu unserm Chalet hoch. Und als der liebe Papa dann sagte: «Morgen gehts auf die Ski, Hösi!»? da würgte der Bub noch ärger. Seine krummen Beine waren nicht für gerade Latten geschaffen. Zumindest nicht für DIESE.
Aber so wie man einen störrischen Esel über andalusische Weiden prügelt, prügelte man mich zum Skilift. Die Prügel waren verbaler Natur: «Aber du willst doch sicher Fasnacht machen, mein Schatz... Also: vier Mal Kuonisbergli für eine Stunde Morgestraich. Haben wir uns verstanden?»
So hing ich dann am Skiliftbügel wie die abgehangene Sau am S-Haken des Schlächters.
Den ersten Beinbruch hatte ich mit 12. Das war auf der Kleinen Scheidegg. Und an einem Fasnachtsdonnerstag.
Der Arzt nahm Vater nach der Gipserei ins Gebet: «Der kleine Bub ist ja total übermüdet...»
ICH HEULTE ZETERMORDIO. DAS MITLEID DIESES WARMHERZIGEN MANNES LÖSTE ALLE SCHLEUSEN. MEIN VATER STAND ALS SKIFAHRENDER BÖSEWICHT DA? DAS HERZ DIESES WUNDERBAREN BEINSCHLOSSERS ABER SCHLUG FÜR MICH...
Später hat mein Erzeuger den vergipsten Zustand seines Kindes einfach ignoriert und mir eine geklebt. «Wie konntest du deinen Vater so blamieren? Dieser Bandagenwichser hat mich ja angeschaut wie den Kindermörder von Ulm...»
Der zweite Tatort: Skilager in Kandersteg. Diesmal flog ich aus Liebe. Gogo, unser Skilehrer stand unten an der kleinen Schanze. Und obwohl ich Schanzenspringen hasste, flog ich mutig im Glück direkt auf ihn zu.
Statt die Arme zu spreizen, trat er mit einem «Jesses... Was gibt denn das?» auf die Seite. Da war nicht nur mein Herz, sondern zum zweiten Mal auch mein Bein gebrochen.
Es kam dann noch der Bruch, als Göpfi mit einem Rucksack so gross wie ein Einfamilienhaus meinen Pistenweg kreuzen musste. Göpfi hat es nichts gemacht. Nur mein Knochen stach etwas unfein aus der engen Skihose heraus. Das Einzige, was Göpfi zu sagen hatte, war:
«WENNS MYNER SCHNAPSI-FLÄSCHE VERCHACHLET HETT, BICHUNNSCH DE MIDÜÜRI DR ARSCH VOLL!»
Da war fertig lustig. Ich verbrannte die Ski. Und Vater vergrub die Asche meiner Pein laut jammernd im Adelbodner Garten, wo schon drei Dackelhunde am Fusse der Tanne verscharrt worden waren.
Ich beschloss, im Winter künftig nur noch zu wandern. Und wenn ich die Autobusse anfahren sehe und beobachte, was die ausladen? DA BIN ICH FROH, DASS DER ALLMÄCHTIGE MIR DIESEN ENTSCHLUSS EINGEGEBEN HAT.
Heute torkeln die Menschen in ihren unbequemen Skischuhklötzen herum, als wären sie auf dem Mond gelandet. Dann stehen sie stundenlang vor den Liften, um fünf Minuten lang diese Hänge runterzujagen, wo die Kühe im Herbst saftige Grüsse hinterlassen haben.
Ich bin jetzt mehr für Kufen und Pferd.
Die Schlitten mit dem Rossgespann, die mit ihren hundert Glöcklein klimmbimmbeln, als sei der Zar und nicht der Putin in den russischen Winter zurückgekehrt, stehen bereit. Fürsorglich werden eiskalte Touristenbeine unter Schafdecken aufgewärmt. Und irgendso eine Tierfreund-Tussi sagt ganz sicher jedes Mal: «Die armen, armen Tiere...», nur damit der Begleiter sie mit verliebten Augen anhimmelt: «Du hast ein wunderbares Herz, Annekäthi...»
Bei Haueter hievt Annekäthi dann nach der Schlittenfahrt drei Schinken-Doppeldecker rein. Und ich denke: «Die armen, armen Schweine...»
Ich liebe den Winter in Adelboden. Wenn nur der Schnee nicht wäre. Und das Glatteis. Wäre ich Denise Biellmann, hätte ich mehr Sicherheit. Aber seit damals in Davos, als ich auf dieser Wanderung mit Hugo Mozzarella auf dem vereisten Weg ins Schleudern kam, als ich den Knochen krachen hörte und Hugo lachte: «Hör auf mit dem Theater... Ich kenne dich: Das Einzige, was kaputt ist, ist deine miese Fantasie!», also, da habe ich mir geschworen: FERTIG. AUS. BRUCH NUMMER VIER? DAS WARS!
Kurz: Was Lambiel vor ein paar Wochen gemacht hat, war bei mir schon vor zehn Jahren auf der Platte? ich zog mich sportlich zurück.
Nur gab ich keine Pressekonferenz.
Von vier Beinbrüchen und einem gebrochenen Herzen...
Donnerstag, 12. Februar 2009