«Er hat nicht mehr lange Zeit», sagte die Krankenschwester in der Ordenstracht. Sie tätschelte mir aufmunternd die Hand. Und brachte mich ans Krankenbett meines Vaters: «Da ist ihr lieber Sohn.»
Man vernahm ein unwilliges Hüsteln aus dem Kissen. Dann ein Knurren: «Machen Sie, dass Sie rauskommen; was ich mit meinem Sohn zu besprechen habe, ist nicht für Betschwestern bestimmt!»
Sie bekreuzigte sich. Und machte sich aus dem Staub. Auf dem leicht grauen Gesicht meines Vaters war ein leises Grinsen: «Sie ist eine gute Seele; sie hat mir gestern sogar einen Schnaps zum Kaffee gebracht und den Allmächtigen für diesen Frevel um Verzeihung gebeten.»
Er versuchte sich aufzustützen. Aber er war zu schwach. Ich bettete ein zweites Kissen in seinen Rücken. Und massierte ihm die Füsse: «Im Alter hat man immer kalte Füsse», seufzte er.
Schliesslich schaute er mich mit seinen müden Augen an: «Also, jetzt pass mal auf? 85 ist ein anständiges Alter. Alles, was darüber ist, kann eine Belastung werden. Für die andern. Und für sich selber. Und deshalb bin ich auch bereit abzutreten.»
Er sagte «abtreten»? wie beim Militär. Oder in der Politik , als er den Gewerkschafts-Job in andere Hände übergab.
Nun hüstelte er wieder: «Es sind die letzten Dinge zu erledigen.» Er schaute mir fest in die Augen: «Ich war wohl nicht immer der Traumvater. Und ich habe viel falsch gemacht. Das tut mir leid.»
Ich habe nahe am Wasser gebaut. Die Tränen strömten. Dann wieder der Knurrton: «Nun? du warst auch nicht immer nur ein Wonneproppen, hast uns viel Sorgen bereitet, aber eigentlich hatten wir es doch ganz fidel.»
Er sagte «fidel», nicht «wunderbar». Es war ein fideles Familienleben gewesen? wie ein fröhliches Cabaretprogramm. Und nun kam der Schlussvorhang.
Vater wühlte mit rasselndem Atem in seiner alten Ledermappe.
«Hier», flüsterte er. «Das ist die A-Liste.»
A-Liste?
«Ja? darauf stehen die Namen aller Armleuchter, die ich nicht an meiner Beerdigung sehen will.»
Es war eine erschreckend lange Liste mit vielen Politikernamen. «Verräter, alles Verräter», brummte das graue Gesicht im Bett.
«Ich kann doch niemandem verbieten, an deine Abdankung zu kommen», gab ich nun doch leicht gereizt meine Bedenken durch. Eine Minute später lagen wir uns wie gewohnt in den Haaren:
«NATÜRLICH KANNST DU DAS. DU STEHST VOR DER KIRCHENTÜRE. UND SAGST, WENN SO EIN VOLLDEPP AN MEINE URNE WILL: SIE SIND HIER PERSONA NON GRATA!»
Persona non grata?? Wo auf dem Sechsertram hat er das mitgekriegt?
«Das ist mir peinlich!»
«WILLST DU MEINEN LETZTEN WUNSCH RESPEKTIEREN ODER NICHT!»
«O.k.»? ich packte die Liste ein.
Nun schüttelte der Kranke seufzend den Kopf: «Ich sehe es deinem Gesicht an: Du wirst sie trotzdem reinlassen! WEIL DU EINE MEMME BIST!»
Ich antwortete nicht. Schliesslich seufzte Vater: «Das Weglifest?»
Im ersten Augenblick konnte ich mit «Weglifest» nichts anfangen. Dann fiel mir plötzlich ein, dass meine Mutter aus Dankbarkeit, dass sie auf dem Kuonisbergli ihr Chalet bauen durfte, die Nachbarn und Bauern, die an unsern Weg anstiessen, alle zwei Jahre zu einem Fest eingeladen hatte. Später hat Vater diese Tradition weitergeführt.
«Wir machen das jetzt schon ein halbes Jahrhundert. Und die Adelbodner warten auf das Fest. Das kannst du nicht schlitteln lassen.»
Ich war ein einziges Fragezeichen: «Was hast du denn jeweils aufgetischt!?»
Vater nicke zufrieden. Er sah, dass ich das Wichtigste kapiert hatte: «Weisswein? Bätziwasser?Bätziwasser? Weisswein.»
Nun wurde seine Stimme leiser: «Ich werde immer so schnell müde. Sie geben mir Morphium, gegen die Schmerzen. Und wenn die gute Schwester noch den Schnaps dazu bringt, hilft das Zeug auch? ein WAHNSINNSCOCKTAIL, sage ich dir.»
Er hüstelte wieder. Ich rieb seine Zehen, die eiskalt waren. Dann seine Hände? auch sie waren eisig.
Vater schaute mich lange an: «Wir sind nie sehr zärtlich miteinander umgegangen, was?!»
«Du hast dir deine Zärtlichkeiten für die Bergblumen, die Felswände und unsere drei Zwirbelhunde aufgespart.»
Er nickte: «Stimmt. Aber weisst du, dass ich es jetzt geniesse, wenn du mir die Füsse warm reibst; es wäre schön, wenn wir noch ein bisschen Zeit hätten...»
Es klopfte kurz. Die Schwester mit der Ordenstracht streckte den Kopf ins Zimmer: «Alles in Ordnung, die Herren? Vielleicht sollten wir den Patienten nicht überfordern und...»
«WIR BRAUCHEN KEINE RATSCHLÄGE! DAS EINZIGE, WAS WIR BRAUCHEN, SIND ZWEI GLAS SCHNAPS!», bellte Vater.
Und die Schwester hob die Augenbrauen: «Heute sind wir aber ganz toll drauf.»
Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, flüsterte das graue Gesicht: «Die Dohlen. Vergiss mir die Dohlen nicht.»
Im Winter, wenn die schwarzen Vögel mit ihren gelben Schnäbeln von den weissen Bergen hinunter ins Tal flogen, weil sie im Schnee nichts mehr zu fressen fanden? in der Schneezeit also hat mein Vater sie stets mit altem Brot gefüttert.
«Es sind meine besten Freunde; sie bringen mir Grüsse von den Berggipfeln! Wenn du kein Brot hast, kochst du ihnen Hörnli. Sie lieben Hörnli.»
Es klopfte wieder. Diesmal war es Innocent, der mit einer Flasche Cognac winkte. Vaters Augen strahlten: «Mit dir wollte ich auch noch reden? alleine!»
Ich verliess das Krankenzimmer.
Und Innocent war der Schlusspunkt? der letzte Mensch, mit dem der alte Mann angestossen und geredet hat.
Viele Monate später, als ich für die Dohlen in Adelboden Hörnli kochte, fragte ich meinen Freund: «Was hat er eigentlich noch gesagt?»
Innocent lächelte: «Ich solle gut auf dich aufpassen!»
Da erst habe ich um meinen Vater weinen können.
Von Vaters letztem Willen und Schnaps am Totenbett
Dienstag, 13. August 2013