Von teuren Rosen in Istanbul und «Dönerese»

Muhamer kommt zum Nachtessen. Er wünscht sich Pasta. Und zwar «Bolognese». Und dann bellt er Erinnerungen in den Telefonhörer: «So wie wir sie bei Mamma Arioli immer hatten!»
Ich habe Muhamer seit über 30 Jahren nicht mehr gesehen. Damals aber waren wir in Rom. Haben zusammen Wörter gebüffelt, Verben konjugiert ? und abends die Via Veneto unsicher gemacht. Heute ist die «Veneto» tot. Zu «unserer» Zeit aber kochte sie wie Spaghettiwasser. Und wir waren das Salz darin.
Auf dem Taksim-Platz sind die Blumenstände. ABER DIE BLUMEN SEHEN AUS, ALS HÄTTE SIE EINER VOR ZWEI WOCHEN VOM FRIEDHOF GEKLAUT. Die Rosen lassen die Blätter fallen wie Dolly Buster ihre XXL-Körbchen in der Gründerzeit. Und Tulpen? ? ALSO DIE WEISSEN GEHEN SCHON ALLE INS GRÄULICHE. GRAUENVOLL. IHR KELCH IST AM KELCH DER ISTANBUL-ABGASE NICHT VORÜBERGEGANGEN.
Trotzdem ? irgendwie will ich es Muhamer ja nett machen. Zupfe alle Rosen, die noch ein bisschen etwas hermachen, aus dem Plastikkübel. Und ­stecke sie im Schock zurück. DER WUCHERER VERLANGT NÄMLICH 15 TÜRKISCHE LIRA. DIES PRO STÜCK! Ja hallo. Das sind umgemünzte neun Franken! Ja, will der mich verarschen?!
(Mit der Zeit merke ich, dass Blumen hier immer staubig und schrecklich teuer sind. Wen wunderts, dass die Plastiknelken-Industrie blüht?!)
Ich spüle meinen Schock bei Lafiz Mustafa mit einem Espresso runter. Die haben dort den vom Kolben. Und ich weiss jetzt, dass alles aufschreit: SO EINE BANANE! In Istanbul schlürft einer doch diesen köstlichen, türkischen Kaffee. Halbsüss. Aus dem Pfännchen. Und...
DANKE. ICH HABE MICH NIE AN DIESES MEHLIGE GESÖFF GEWÖHNEN KÖNNEN. Ich meine: Am Schluss kommt da immer noch ein Schluck wie eingefärbte Kreide. Deshalb Espresso. Und weils schon neun Uhr morgens ist, auch ein Schälchen mit zuckersafttriefenden Baklava, die nach Rosenblüten schmecken.
Da der Frühling fast sommerliche Temperaturen aufkocht, hocke ich mich auf dem Trottoir an ein Blechtischchen. Schon schleppt ein Schuhputzer seine messinggerahmte Kiste an. Und schaut meine (zugegeben: etwas arg dreckverspritzten) Golfer angewidert an, sodass ich gar nicht anders als Ja zur Putzerei sagen kann.
Ehrlich gesagt, ist es mir bei einem Schuh­putzer immer etwas beklommen ums Herzchen. Irgendwie schäme ich mich dafür, dass er sich vor mir hinknien muss. Okay ? wenn er mir die Hand küssen würde, wäre das ganz in Ordnung. Aber Schuhe putzen? Man kommt sich so als mieser Drecksack vor, der seine Boni ausbezahlt bekommen hat und sich nun durch ein Schälchen Baklava frisst.
Die Putzerei wird zum Drama und dessen ­Protagonist heisst Kenan. Kenan ist aus Syrien geflüchtet. Er zeigt mir zur Bestätigung seinen Pass sowie ein Familienalbum mit sieben allerliebsten Kinderchen. Da ist auch das Foto einer Alten. Ich weiss nicht, ob es seine Mutter oder seine Frau ist ? jedenfalls hat er sie alle nach Istanbul mitgeschmuggelt. Und jetzt am Hals. Deshalb ? NUN SCHAUEN SEINE AUGEN SO TRAURIG WIE BAYERN BEIM ABSCHIED DES RATZI ? deshalb hofft er, der Gentleman habe ein Einsehen und...
ICH SCHAUE MICH UM. DA IST KEIN GENTLEMAN. DA BIN NUR ICH.
Aber natürlich kann so ein Schuhgeputzter nicht anders. DAS IST JETZT DIREKTHILFE AM MANN. Dazu ohne teure Verwaltungsspesen. Also honoriere ich Kenan fürstlich. Und dies obwohl er bei seinen dramatischen Ausführungen das Putzen total vergessen hat. Und mein Schuh noch immer aussieht, als sei er eben durch den Schlamm ­gezogen worden.
Während ich also vor Lafiz Mustafas Kaffeehaus das Miese dieser Welt mitbekomme, frisst eine Katze genüsslich meine Baklava weg. Es gibt in Istanbul mindestens so viele Katzen wie in Rom. Alle wild. Und (erstaunlich!) wild auf Süsses.
Sabra, die Frau von Selim, hat mir eingehämmert, ich müsse bei Yusuf, dem Metzger, darauf bestehen, dass er das Fleischstück in Allahs Namen und vor meinem wachsamen Augen durch die Maschine lasse. Nur so könne ich sicher sein, dass es pures «Kiyma» sei.
ALSO DEN BLICK VON YUSUF HÄTTET IHR SEHEN SOLLEN, ALS ICH NICHT VON SEINEM ABPACKHACK WOLLTE! Ich habe ihm meinen Wunsch auf Englisch und Schweizerdeutsch vorgestammelt. Habe gelächelt. Charmiert. Und mit Puls 110 sein grosses, spitzes Messer, zu dem er grimmig griff, einfach ignoriert.
Schliesslich säbelte Yusuf von irgendeinem blutigen Stück einen Lappen ab. Gabs in einen lärmenden Metallhals. Und machte Hackfleisch daraus. Als ich die leicht graurosige Masse auf dem ­Metzgerpapier sah, wusste ich, dass die «Bolognese» der Mutter Arioli eine ganz andere Ausgangsbasis hatte. O.k. Es war auch nicht einfach, frischen Basilikum zu finden. Da musste es jetzt eben Minze tun. Statt des Parmesans habe ich Peyniri gefunden. Und natürlich gabs keine Barilla-Penne, sondern nur etwas Ähnliches wie Suppennudeln. ABER DER GUTE WILLE WAR DA!
Als ich dann Muhamer nach etwa 35 Jahren gegenüberstand, war mein Schock so gross wie seiner, als er meine «Pasta Bolognese» kostete. Die Zeit hatte Muhamer Zähne und Haare geraubt. Ja, ich war echt froh, dass die «Suppenpasta» bereits nach drei Minuten total verkocht war. So musste sie Muhamer zumindest nicht beissen. Womit auch? Er stocherte also herum. Nickte dann: «Das ist keine Bolognese. Das ist Döner-Sauce. DÖNERESE. Aber dein Lamm war sehr, sehr alt...»
Nicht nur das Lamm. Wir beide auch.
Aufgekochte Erinnerungen sind nur in den wenigsten Fällen geniessbar.

Dienstag, 19. März 2013