Von Sonntagsspaziergängen und Friedhofbesuchen

«Wie wärs mit einem Spaziergang?» Das war Innocent. Und das war am Sonntag. JA HALLO! ICH BIN NICHT DER SONNTAGSSPAZIERGANG-TYP. Also alle mal herhören: SO ETWAS HAT MIR DIE FAMILIE ALS KIND SCHON VERMIEST!
Sie haben den kleinen, lieblichen Jungen wie eine Miniatur-Schaufensterpuppe in nette Kleidchen gehüllt. SONNTAGSKLEIDCHEN. Ich meine: Das gibt es doch heute gar nicht mehr!
«Die schönen Sachen» waren diese Kinderstrafe, die nur am Sonntag aus der Kleiderkommode hervorgeholt wurde. Es gab damals in den Fünfzigerjahren auch das Sonntagsgeschirr..., das Sonntagstischtuch... und das Sonntagsessen.
Letzteres war ein gebratenes Huhn, als Hühner noch Hühner mit Federn waren? und nicht nackt wie Babyärsche im Tiefkühlangebot. Tante Gertrude buk das Federvieh in der Röhre. Sie gab der Henne mit 200 Gramm Butter die letzte Ölung, was meine liebe Mutter jedes Mal zur spitzen Bemerkung hinreissen liess: «MIT SO VIEL BUTTER IST ES KEINE KUNST, EIN GUTES HUHN AUF DIE PLATTE ZU BRINGEN!» Tatsache war, dass Mutter punkto Kochen eine Lachnummer war. Und wenn sie mir auf Wolke drei nun auch grollt sowie einen eisigen Hagelsturm um die Ohren pfeifen wird: ICH WEISS, WAS ICH SAGE. WER EINMAL MUTTERS TOMATENSUGO GENOSSEN HAT, KAPIERTE SCHNELL, WESHALB DAS KIND SEIN SACKGELD FÜR COLAFRÖSCHE UND WURSTABFALL MISSBRAUCHTE!
Das Sonntagsessen meiner Mutter? die beiden Schwestern wechselten sich wöchentlich mit der Kocherei ab? bestand aus zwei Büchsen Erbsli mit Rüebli (mittelfein). Dazu Rahmschnitzel und Nudeln, wobei die Nudeln so weich waren, dass man sie mit dem Strohhalm schlürfen konnte. Schnitzel gabs für uns Kinder nur ein halbes pro Kopf. Und da wir nur einen Kopf hatten, könnt Ihr euch vorstellen, wie heiss wir unsern Vater liebten, der gleich drei neben den verklumpten Teigwaren aufgebettet bekam. Und alles alleine reinpfiff!
Dazu diese weissliche Sauce, die an Schlimmes erinnerte und nur noch vom Marmorkuchen zum Kaffee übertrumpft wurde? ES WAR DIESER KUCHEN, DER MIR ALS KIND DIE STILLE SEHNSUCHT ZUR SANDIGEN WÜSTE FÜR IMMER VERGÄLLTE!
Der absolute Gong aber war dann der Sonntagsspaziergang. Sie käppelten dem schönen Buben mit dem etwas zu grossen Kopf eine Busi-Mütze auf. Heute tragen Kinder (UND ICH MEINE KINDER BIS 80 PLUS) ja auch diese hippen Kopfbedeckungen mit dem Schild nach hinten? aber damals kam so etwas nicht infrage. Die Ohrenklappen wurden runtergeschnallt. Und der Kopf sah aus wie ein etwas allzu runder Teetopf unter der Wärmehaube. Dazu: handgestrickter Sonntagspullover mit eingesticktem Elefäntlein. Samthose. Und diese Schuhe, bei deren Einkauf wir bei den Hubers mit den Zehlein winken mussten. Der Fuss im Schuh wurde in ein düsteres Loch geschoben. Berta Matthis, die Verkäuferin, hing über einem mannshohen Apparat. Ich streckte alle Zehen wie ein Frosch. Und sie schaute in die Röntgenröhre, ob da auch noch genügend Platz zwischen dem grossen Zeh und dem Schuhrand sei.
«Den trägt er mindestens vier Saisons!», gab sie dann ihren fachfraulichen Kommentar ab.
Der Sonntagsspaziergang war Frauensache. Vater seilte sich vor solchen Pflichten elegant ab: «Ich hab noch Dienst auf dem Sechser...» , setzte er sich den Trämlerhut auf. Und war schon mal weg.
Die Frauen schauten einander stumm an. Seufzten. Und als Grossmutter Lydia den Sonntagskrach mit ihrer Giftspritze über «einen?Sechser?, den man wohl mit x schreiben muss», anheizen wollte, zischten die übrigen Frauen erbost: «Pas devant les enfants!»
Da Tante Gertrude mit nicht mal 30 Jahren eben erst Witwe geworden war, trugen die Frauen aus Solidarität alle schwarz. Dies drei Jahre lang. Sie hatten Hüte auf? mit grossen, dunklen Schleiern, die wie ein Schuss Teer über ihre zündrot gepuderten Backen fielen. Dann das schwarze Sonntags-Deux-Pièces, schwarze Pumps und schwarze Kunststoff-Handtaschen. Das Kind, dem man die Trauerkleidung nicht zumuten wollte, lief wie ein buntes Wesen von einem fröhlicheren Planeten der tragischen Familienfront voraus? wissend, dass hinter ihm eine dunkle, unerbittliche Mauer von klappernden High-Heels und plappernden Kirschenmündchen kein Entrinnen möglich machten.
ES GIBT FOTOS AUS JENER ZEIT, UND ICH MUSS MICH SCHON FRAGEN: WO WAR DER KINDERSCHUTZ DAMALS?
Der Sonntagsspaziergang ging über die Gräber zur Stelle, wo mein Patenonkel und von der Tante so schnell Weggeraffte unter einem schweren Stein seinen Frieden fand. Die Frauen werkelten ein bisschen an den welken Stiefmütterchen herum. UND WENN WIR SCHON MAL DA WAREN, BESUCHTEN WIR AUCH DIE ANDERN VERWANDTEN UNTER STEIN, ÜBER DIE JEDEN SONNTAG DIESELBEN SÄTZE WIE EIN DAUERREGEN FIELEN: «Die gute Oma Schmied..., keine hat so wundervolle Fleischkräpflein gebacken wie sie...» Oder: «Der arme Bobby. So kommts, wenn der Schnaps die einzige Religion im Leben ist!» Manchmal fingerten sie ihre schwarzen Tüllschleier hoch, um ein paar Tränen aus den Augen zu tupfen. Die Kembserweg-Omi schlürfte genussvoll an ihrem dritten Würfelzucker, der mit dem Melissengeist der Klosterfrauen getränkt war. Und dazu dann immer wieder mit kleinen bellenden Rufen: «Pass auf, wo du mit den neuen Schuhen hintrittst..., und lauf nicht wie ein Mädchen!»
Und nun also Innocent: «WIE WÄRS MIT EINEM SONNTAGSSPAZIERGANG?!»
Ich sage nichts. Stumm lege ich ihm das Bild mit dem seltsamen Mützenknaben und der schwarzen Weiberfront dahinter auf den Tisch.
Er schaut die Foto eine Minute schweigend an. Dann: «AHA! HABS SCHON KAPIERT? DU BRAUCHST EINE NEUE SKIMÜTZE.» Eine Stunde später besuchten wir alle, die damals hinter dem Schleier die Tränen weggetupft hatten.

Samstag, 5. Februar 2011