Wer in Roma Termini ankommt, sinkt auf die Knie. DANKT UND LOBET IHN. Und weint Tränen im Glück, dass er überhaupt angekommen ist. Zehn Minuten später weint er wieder. Dieses Mal, weil ihm das Portemonnaie fehlt. UND NATÜRLICH SIND ALLE KREDITKARTEN NOCH DRIN.
Das hektische Rumgewusel auf dem Römer Hauptbahnhof? ein weiss-gräulicher Prunkbau mit der totenhausgemütlichen Ausstrahlung einer Faschisten-Zentrale? hat etwas, das die Menschen sofort hypnotisiert. Und zugleich abschreckt.
Hier herrscht ein Treiben wie auf einem Bazar in Taschkent. Nonnen flattern wie aufgescheuchte Tauben vorbei. Die cappuccinobleichen Schwestern lassen unbeirrt von der wogenden Hektik den Rosenkranz durch ihre schmalen Finger gleiten. Und ihr gemurmeltes «Gegrüsst seist DU» tropft wie Schmieröl von Kugel zu Kugel.
Jeder zweite Schritt wird der Neuankömmling von seltsamen Männern in speckigen Anzügen und verfleckten Krawatten angemacht. «TAXI! TAXI!» Jeder weiss, dass diese wilden Taxifahrer des Teufels und zehnmal teurer sind? aber wer dann die riesige Schlange von Wartenden draussen auf der Piazza entdeckt und bald einmal zu hören bekommt, dass die grösste der Taxigesellschaften wieder mal bummelstreikt, der lässt sich dann doch von den Speckanzügen überreden. Hockt sich in eine der verbeulten Limousinen. Und bezahlt für die Fahrt ins Hotel so viel, wie eine Grossfamilie für eine Fahrt nach Palermo.
Römer und Kenner der Stadt versuchen die «Termini» wenn immer möglich zu umgehen. Rom hat so viele andere Bahnhöflein. Kleinere. Etwa «die Pfaffenstation», die dem Klerus und «San Pietro» gewidmet ist. Dann die Stazione Ostiense? ein unscheinbarer Ort am Rand der Stadt, der Dürrenmatt zu seinem «Güllen» inspiriert haben könnte. Und natürlich die Stazione Trastevere: sechs Geleise, vier Steinsitzbänke und eine Kaffeebar, wo die Fliegen nun wirklich die Einzigen sind, welche noch auf die ausgetrockneten Tramezzini Lust haben. Die von der Hitze gewellten, dünnen römischen Sandwiches mit den ölglänzenden Artischocken oder der leicht ergrauten Thonmasse als Füllungs-Sorpresa liegen auf verfleckten Servietten. Immerhin: Der Caffè ist feurig heiss und erstklassig? wie jeder Caffè in den Bars auf dem Stiefel.
Mein Zug, der mich auf die Insel zurückbringen soll, fährt wohl ab Termini. Aber da es ein Bummelzug ist, hält er noch an vier verschiedenen Bahnhöflein, bis er aus der Ewigen Stadt herausschaukelt, dem Meer entlang bis nach Civitavecchia, wo die Kreuzfahrtschiffe wie Hochhäuser auf dem Meer warten. Und dir nur eines durch den Kopf geht: «Oh Herr? lass dieses Schiff an mir vorbeigehen!»
Ich also warte auf der Stazione Trastevere auf meinen «Bummler». Bin zu früh, wie immer. Und hocke mich auf einen ausgedörrten Brunnen, da die vier Steinbänke bereits von einer Handvoll Junkies und drei Alkis mit neun Hunden belegt sind.
Während auf der grossen Termini die Polizia im Grossaufmarsch Respekt verströmt (ein Respekt allerdings gegen den die Taschendiebe immun sind), rotten sich die Randgruppen der Stadt in den kleinen Bahnhöflein zusammen. Sie werden von den Reisenden wie auch von den Händlern um die Stazione kaum zur Kenntnis genommen. Denn meistens liegen sie einfach apathisch da. Schnorren höchstens mal einen Euro oder eine Zigarette. Aber sie gehören zum mehr oder weniger tristen Alltag jedes Grossstadtlebens? auch wenn ihre Geschichten spannend, ja faszinierender als jede TV-Cop-Serie sind.
Auf Gleis 3 hält ein jüngerer Mann seit einer Viertelstunde eine Rede in DEUTSCHEN GROSSBUCHSTABEN. Sehr laut. SEHR SEHR LAUT.
Er palavert vom seligen Adolf. Und dass dies ein guter Mann gewesen sei: «NUR BERLUSCONI IST BESSER... IHR HABT ES GUT... BEI UNS SIND ALLES PFEIFEN!»
Die Junkies gähnen ihn an. Die Zugreisenden, die auf den Perrons warten, verstehen nur Bahnhof. Sie schauen etwas geniert auf die andere Seite. Doch die penetrante Stimme und der näselnde, sächsische Dialekt nerven nun doch den Kioskverkäufer. Er ruft die Polizei.
Nach zehn Minuten marschiert eine Carabinieri-Mannschaft an.
UND JETZT GEHT DAS THEATER ERST RECHT LOS.
Der Mann brüllt auf die drei Uniformierten ein. Diese sehen in ihren Uniformen mit den eng geschnittenen Hosen und den lackierten Stiefeln aus wie Operetten-Statisten. Seelenruhig streifen sie lederne Handschuhe über. Parlieren auf ihr Funkgerät ein? und nehmen den Mann bei den Armen. NOCH MEHR GEBRÜLL.
Fünf Minuten später brettert ein Überfallkommando mit Blaulicht mitten auf den kleinen Quartierbahnhof. Acht Beamte jagen heraus. Und führen den nun still gewordenen Deutschen ab. Er hat wohl die deutschen Regierenden als Pfeifen betitelt. Doch die Carabinieri haben nur «BERLUSCONI» verstanden. Und glaubten an eine Staatsbeleidigung.
Ich steige in den Bummelzug nach Civitavecchia.
Ein italienisches Rentnerpaar setzt sich mir gegenüber: «Unglaublich, welches Gesindel man heute überall antreffen muss...»
Die Frau mit den schmalen Lippen streicht ihr zerknittertes Leinenkostüm glatt: «Man kann über Mussolini sagen, was man will? aber damals herrschte noch Ordnung!»
Ich wechsle das Abteil.
Von römischen Bahnhöfen und Junkies
Samstag, 9. Juli 2011