Von Originalen, die keine sind, und Klärchens Macke

Donnerstag Klärchen hatte einen Knall.
Klärchen war die Cousine meiner Mutter. Und in jener Familie «hatten ja alle einen Schuss» (Originalton meines Vaters). Wenn Klärchen zu Besuch kam, wurden wir instruiert: «Gafft nicht wie die Kröten! Tut, als sei alles ganz normal...»
ALSO DIE HATTEN JA GUT REDEN.
Da erschien diese Frau, von der meine Grossmutter schon Tage vorher herumgejammert hatte: «Ich hoffe nur, sie zeigt nicht wieder jedermann ihr Kätzchen.» Da erschien also Klärchen in gestrickten Kniesocken und mit zwei dünnen grauen Zöpfchen, die so schräg abstanden wie bei einer billigen Pippi-Langstrumpf-Perücke aus dem Quelle-Katalog. Auf der Schulter trug die Cousine einen Schulsack, auf dem eine Jesuskäfer-Familie ein Festlein feierte. Im Schulsack waren übrigens eine Flasche Klosterfrau Melissengeist sowie zwei Kilo Würfelzucker. Unaufhörlich hopste Klärchen auf einer imaginären Hüpfe auf unserem Küchenboden herum. Dabei schleckte sie geräuschvoll an einer mohnfarbigen Zuckerkirsche, so dass ihr schmallippiger Mund mit scharlachroten Flecken verschmiert und zum Fürchten war.
«Sie frisst auch Kinder!», wisperte Rosie. Aber Klärchen grapschte nun zwischen dem Würfelzucker im Schulsack nach einer vergammelten Stoffpuppe und schmatzte diese mit gurrenden Lauten ab: «Das ist Elfriede? die Elfenkönigin im Walderdbeerenland!»
Elfriede hatte auch scharlachrote Flecken im Gesicht. Und nur ein Knopfauge. «Wir haben ein schönes Stück Kuchen für das liebe Klärchen», versuchte Mutter nett zu sein. Klärchen drehte sich? «jupiiiiii!»? wie ein Derwisch im Kreis, sodass das kurze Röcklein blumig aufflog und die Sicht auf ein paar verhutzelte Schenkel freigab. Klärchen hatte nämlich die 70 schon lange überhüpft.
UND EBEN DAS MACHTE ALLES SO FASZINIEREND.
«Klärchen ist eben ein Original», versuchte Mutter die Sache zu verharmlosen (wie gesagt, es war ihrer Familie und der Sippe entsetzlich peinlich). Damals habe ich das Wort «Original» erstmals zu hinterfragen begonnen. Und wenn gewisse Medien mich heute hin und wieder als «Original» abstempeln, muss ich doch sehr madig werden.
DENN WANN HABE ICH SCHON MAL EINEN SCHULSACK MIT KLOSTERFRAU MELISSENGEIST AUSGEPACKT?? Eben!
Bei einem späteren Besuch habe ich dann auch Klärchens Kätzchen kennenlernen dürfen. Diesmal erschien die alte Cousine in einem bodenlangen, abgefuckten Pelzmantel. Viele Kaninchen haben da ihr rammliges Leben lassen müssen. Jedenfalls sah alles so aus, als hätte sich eine Herde von Osterhasen über Pippi Langstrumpf hergemacht.
«Willst du das Kätzchen sehen?», flüsterte die verwitterte Base, als sie in einem unbeaufsichtigten Moment ihren Lieben entwischte und in mein Zimmer schlich. «Ja», sagte ich. Denn was hätte ich sonst sagen sollen? Ich war ja eher auf der Hundeseite. Aber eine Frage einer originalkranken, alten Frau schlägt man nicht in den Wind. Klärchen knöpfelte also an ihrem Karnickelpelz herum, warf ihn auf den Boden? UND STAND NACKT DA.
«Mammma!», schrie ich. Und sie sammelten die Cousine wieder ein, nicht ohne mich vorwurfsvoll anzuschauen: «Was hast du mit Klärchen gemacht?!»
Die Cousine aber nuggelte bereits wieder am Würfelzucker, der mit Melissengeist getränkt war, und schaute mich verächtlich an: «Penner!»
Später, als sich ein Psychiater an einer Analyse über mich als Original versuchte, meinte er, die Kätzchenepisode habe mein Inneres erschüttert und bleibende Narben hinterlassen.
DAS IST NATÜRLICH UNSINN AUF KRANKENKASSENBEZUG!
Meine Beziehung zu Katzen wurde durch Klärchens Pelznummer nämlich weder getrübt noch verstärkt. Immerhin schleppe ich noch heute Tonnen von Kitekat auf die Insel, um sie hier den Wildmiezen zu verfüttern, ohne dass ich jedes Mal gleich an die Cousine und ihre pelzgefütterte Nudistenmacke denken muss.
Ende der Sechzigerjahre, als die Flower-Power-Leute wie rosige Heuschrecken unseren Alltag aufmöbelten, stand Klärchen hoch in den Achtzigern und hatte die vergammelten Kaninchen gegen einen Strickrock in Regenbogenfarben eingetauscht. Sie schloss sich einer fröhlichen Gruppe an, die sich «die Kinder der Liebe» nannte und tonnenweise von diesem Gras inhalierte, das so glücklich macht.
Klärchen blieb allerdings stimulierungsmässig bei ihren alten Klosterfrauen und dem Würfelzucker? aber in diesem sonnendurchfluteten und doch leicht benebelten Umfeld fielen ihre immer dünner werdenden Zöpfchen und das Kätzchen unterm Rock nicht mehr weiter auf.
Jedenfalls starb sie im hohen Alter von 94 glücklich in den Armen eines Bhagwan-Jüngers, der sie «mein Pippi-Kätzchen» genannt hat.
KLÄRCHEN WAR KEIN ORIGINAL.
Mutters Cousine war ganz einfach einer verrückten Zeit voraus.
Ihr Erbe, das sie der Familie hinterliess, war der Schulsack mit den fröhlichen Jesuskäfern. Darin: zwei Kilo Würfelzucker. Und eine Doppelpackung Klosterfrau Melissengeist? die allerdings: ORIGINAL.

Donnerstag, 11. Juni 2009