Donnerstag «Bongschuur scheer madmuasells!»? das war Onkel Nudelstadt. Schon flötete der Chor der Rezeptionistinnen: «Bonjour Monsieur Nüüüdelstadt...» Sie streckten die Busen raus, als gings zum Synchronschwimmen. Und sie machten alle diesen Schmollmund wie Brigitte Bardot, als sie noch keine Tiere schützte.
«Er hat etwas...», flüsterte mir Tantchen zu. Die Portiers hievten eben den dritten Gepäckwagen mit ihren Hutschachteln voll. «Irgendetwas stimmt nicht», fuhr sie fort, «könntest du mal mit ihm reden. Ich vermute, es sind diese Männergeschichten und die Postdepression nach der Geschichte, wenn die Geschichte vorher nicht geklappt hat... ach Kindchen, du weisst doch, was ich meine.»
ICH WUSSTE, WAS SIE MEINTE. Er hat Schwierigkeiten mit der Post.
Die Sonne über Cannes brannte wie ein Pizzaofen an einer sizilianischen Heiligenprozession.
Dennoch hatte sich mein Onkel in ein schwarzes Sakko gehüllt, das so hoffnungslos war wie seine Laune. Wir trippelten also die Croisette entlang.
Im «Carlton» setzten wir uns an eines der vielen Tischchen. Ausser einer arabischen Clique, die heissen Tee schlürfte, waren wir die einzigen Männer. Der Rest: stark parfümierte Weiber mit Fassaden, die mindestens schon den zwölften Anstrich hatten. Auch hier zeigten alle Damen Bardot-Mündchen, viel Bein und so viel Busen, dass es zu schön war, um wahr zu sein.
Onkel Nudelstadt, der ansonsten auf solche Reize reagiert wie Nachbars Lumpi auf eine Dose Sardellen, stierte ins Leere. Und das Leere war die Speisekarte, von der er ein alkoholfreies Bier, temperiert, bestellte.
DAS WAR ALARMSTUFE EINS. Der Onkel trinkt nämlich kein Bier.
Ich tätschelte seine müde, eiskalte Hand und sagte: «Das ist doch alles nicht so schlimm. Es gibt auch für dich diese lustigen, blauen Tabletten und schon ist die Sache wieder in Ordnung.»
«GOTT, BIST DU EINE PFEIFE!», zischte er nun genervt, «DENKST DU EIGENTLICH IMMER NUR AN DAS EINE?» Dies sagt mir einer, der Cannes Damenwelt aufmischt wie unser indischer Strassenfeger den Claragraben.
Schliesslich bläst er den Schaum vom Bier: «Ich musste in die Prüfung. Psychotest. Und in jedem Psychotest wollen sie doch, dass man eine Uhr zeichnet und dann die Zeit einträgt.» Ich bin etwas verwirrt: Psychotest? Uhreintrag?
Der Onkel seufzt: «Es ist nicht schön, alt zu sein. Du darfst nur noch ans Steuer, wenn du diesen ärztlichen Psychotest bestanden hast.» UND DANN TOSEND: «Aber ich kann nicht zeichnen, konnte es nie, schon gar keine runden Uhren, und diese Pumpe von einem Psychiater wollte die Uhr.»
Es stellte sich heraus, dass mein 81-jähriger Onkel bei der jährlichen Kontrolle betreffs Fahrtüchtigkeit seiner Person von einem Psychiater auf Herz, Geist und Niere untersucht worden ist.
«Ich musste die 7er-Reihe rückwärts aufsagen, den Pythagoras erklären und die drittgrösste Stadt von Usbekistan wissen», erläuterte Nudelstadt, «ich kam mir vor wie bei diesem Herrn Jauch in der Quiz-Show, lauter Kinkerlitzchen-Kram, Bagatellen.»
Da Onkel Nudelstadt schon als Kind schneller rechnen konnte als die Ladenkasse des Konsumvereins, kann ich mir vorstellen, wie der Psychiater hinter den Resultaten herhinkte. «Dann hat dieser Seelenklempner gesagt: «Zeichnen Sie eine Uhr. Und auf der ist es halb drei!»
Ja und?
«Ich kann keine Kreise zeichnen. Nullen ja. Kreise nein. Da sass ich. Und wusste nicht weiter...»
Onkel Nudelstadt hat die Kreisblockade. Und da helfen auch keine blauen Pillen. «Aber du kannst doch jederzeit eine Null aufs Papier bringen. Und dort «halb drei Uhr» einzeichnen.»
Der Onkel schaut unsicher von seinem Bier auf. Erstmals zeichnet sich ein kleines Lächeln ab:
«Ja? Meinst du wirklich...? Ich muss nämlich nochmals hin, nur weil ich so blockiert vor dem leeren Blatt gehockt bin. Der Psychoarsch dachte, ich hätte was weiss ich was. Wenn ich gewusst hätte, dass ich auch eine Null...»
Sofort bestellten wir beim Kellner Papier. Und Kugelschreiber. Mein Onkel zeichnete Nullen wie wild. Es waren all die vielen Nullen, die man jetzt immer wieder am Fernseher hört, wenns um Defizite, Verluste oder Wahlen geht. Es waren Trilliarden von Nullen. Und in jede von ihnen stellte er die Zeiger auf halb drei.
Die parfümierten Frauen konnten gar nicht mehr den Blick von Nudelstadt wenden. Fasziniert schauten sie auf die Nullen. Selbst die Araber nickten meinem Onkel anerkennend zu. Dieser liess sich vom Kellner sofort eine Flasche Champagner rosé bringen: «Und du meinst wirklich, das geht? Eine Null statt eines Kreises?» So hatten wir das Problem der Nullblockade bei einem Bierchen gelöst.
Ich weiss nicht, ob man auch Finanzkrisen in einschlägigen Kreisen so lösen kann. Beim Onkel hat es jedenfalls gewirkt. Als wir das «Carlton» verliessen, rieb er sich die Hände warm und winkte den Damen jovial zu: «Ohhh scholli fille... tree scholli fille...»
Und wie er beim Nachtessen dann die Servicedame gutgelaunt «allo, allo? ma pötit schugrutt» am Schürzlein zupfte, ergriff Tantchen seufzend meine Hand: «Ich danke dir!»
Von Onkel Nudelstadts Nullen und einer Blockade
Donnerstag, 2. Juli 2009