Als Luisa sich den goldenen Schuss gab, kam auch der Brief. 35 Jahre lang hatte sie nach ihrem Vater geforscht. Nun meldete er sich. Aus Miami. Und dies mit 60 Millionen.
Der Bürgermeister rieb sich die Hände, als er die Nachricht vernahm. Die grossen Neuigkeiten verbreiten sich in diesem kleinen Hafenort auf der Insel so schnell wie das unliebsame Jakobskraut: der Pöstler hatte den Brief zu Avvocato Bossi ge- bracht. Bossis Sekretärin warf einen Blick darauf und gab den Inhalt kaum eine Sekunde später über das Telefonino an Maria, ihre verwitwete Mutter durch. Von Maria wars nur ein kurzer Weg zu Luigi, dem Alimentari-Händler? UND DANN WUSSTEN ES NICHT NUR DIE KARTOFFELN: Die arme Luisa ist zu früh gestorben.
Als vierjähriges Mädchen war Luisa zu den Nonnen gekommen. Die Mutter, eine fröhliche Alkoholikerin, in deren Adern Grappa statt Blut fliessen musste (so zischelten die Inselweiber, deren Zungen mitunter giftiger sind, als die Zähne von alten Vipern)?, die Mutter also war eines Tages einfach nicht mehr aufgestanden. Sie kippte noch einen Eigenbrand. Und verabschiedete sich von dieser Welt. Alle hielten es für die beste Lösung. Und so kam Luisa zu den Nonnen.
Mit 12 büxte sie aus. Mit 14 hing sie an der Nadel. Und mit 16 verkaufte sie erstmals ihren Körper für einen Schuss. Dies an einen reichen Hutfabrikanten aus Florenz. Der Signore besuchte die Insel stets im August mit seiner Familie.
Es kam eine ganze Schar von «Pezzi grossi» aus Florenz und Rom an Ferragosto hierher. Und Luisa so immer wieder zum Schuss.
In der kühleren Herbst- und Frühlingssaison, wenn die Villen der Reichen so verschlossen waren wie kranke Venusmuscheln, waren es die Fischer und Weinbauer des Ortes, welche Luisas Dienste in Anspruch nahmen. Nicht, dass sie auf der Insel deswegen geächtet worden wäre. Im Gegenteil. Die Menschen hier kannten das Leben? schon die alten Römer hatten ihre Gespielinnen beschenkt. Und so war Luisas Arbeit nicht mehr und nicht weniger wert als der Job des Macellaio Alfredo oder der Milchhändlerin Anna-Maria.
Luisa schlurpte nicht als abgefuckter Junkie durchs Dorf. Sie gab viel auf ihr Äusseres. Trug dezente Hosenanzüge. Schminkte sich kaum. Und liess ihr flammendrotes Haar wie fliessende Lava auf die Schultern wallen.
Jeder auf der Insel kannte Luisa. Die Frauen nickten ihr stumm zu (viele waren insgeheim dankbar, dass sie ihnen dieses lästige Nachtwerk des Beischlafs nach einem stressigen Tag abnahm). Die Männer griffen sich bei ihrem Anblick an den Schlitz. Und selbst bei den Ältesten kam da ein Feuer auf, als würden tausend Sonnen aufgehen. Die Jünglinge aber freuten sich auf den Polterabend. Es war ein Brauch im Hafenort, dass die Freunde des Bräutigams in der Nacht vor dem Altargang Luisa dem angehenden Ehemann zum Geschenk machten.
Zwei Mal pro Woche suchte Luisa Suora Angela auf. Diese hatte sie damals im Kloster betreut. Angela musste dann aber das Convento verlassen, weil sie mit einem Prete auf dem Festland eine Beziehung unterhielt. Und diese Liebe mit einem Kind gesegnet wurde. Dennoch nannte jeder im Ort Angela weiterhin Suora. Zusammen mit dem Pfarrer hatte sie eine Kinderkrippe aufgemacht. Da die Suora aber ein gutes Herz hatte, brachte das «Asilo» nur arme, verlassene Schreihälse ein. UND SONST KEINEN CENTESIMO. Man munkelte, dass das Paar finanziell aus dem letzten Loch pfiff. Der Bürgermeister aber verweigerte jede Unterstützung durch die Steuerkasse der Comune. Jede Bittstellung diesbezüglich wurde abgelehnt. Man habe genügend andere Sorgen. Dennoch blieb das Paar fröhlich, optimistisch. Es nahm weiter kleine Schreihälse auf? und erklärte, die grosse Liebe zueinander entschädige sie für alles.
Als man dem Bürgermeister berichtet hatte, Luisa sei im Mohnblumenfeld tot aufgefunden worden, orderte er den Staatssarg an. Und beschloss, sie auf dem Feld der «Alleingelassenen», dem «Campo delle anime abandonate» zu begraben.
Das unerwartete Testament aus Miami liess ihn dann sechs Stunden später zum Telefon greifen: «Funerale di prima classa!»
Und so erhielt Luisa eine pompöse Beisetzung, wo die rumänische Migrantin Svetlana mit ihrer goldenen Stimme (und für 100 Euro) das Ave Maria sang. Und wo auch noch das allerletzte Klageweib am feudalen Sarg mit den goldenen Handgriffen und dem kleinen Guckfensterchen, das den Blick auf eine friedliche Tote freigab, laut jammernd in die Knie ging (20 Euro).
Es war am fröhlichen Leichenmahl in der Taverna von Maurizio, als die andere Nachricht durchsickerte. Dieses Mal hatte sie Loredana als erstes verbreitet. Sie arbeitete als Putzfrau bei Avvocato Grassi. Und entdeckte das Testament.
Es war ein kurzes Schreiben: «Ich hinterlasse alle meine Habseligkeiten Suora Angela, die mir immer treu zur Seite gestanden ist. Gezeichnet: Luisa di Silvestre.»
Sofort liess der Bürgermeister nach der Suora rufen. Diese hatte ihrer Freundin zwar das letzte Geleit gegeben? musste dann aber sofort zu ihrer tobenden Brut zurück, da ihr Mann da alleine ganz einfach überfordert war.
Als Angela etwas konsterniert im Saal der Taverna auftauchte, segelte der Bürgermeister mit ausgebreiteten Armen auf sie zu: «Liebe, liebe Suora Angela... die Gemeinde hat ihr Anliegen wohlwollend geprüft...»
Von Luisas goldenem Schuss und dem Testament
Samstag, 18. Juni 2011