Mit 18 flog ich aus.
Immer wenn ich einen potenziellen Lover heimbrachte, erkundigte sich meine Mutter als Erstes nach dessen Bankkonto. Mein Vater wollte den Militärgrad wissen. DA ERLOSCH DEREN LUST WIE DAS VEILCHEN IM ATOMMÜLL!
Also nahm ich mir eine kleine Wohnung am Rande der Stadt. Mutter stemmte die Fäuste in die üppigen Hüften: «Dann pfeif mal los. Soll mir keiner nachsagen können, ich sei eine Glucke. ABER KOMM MIR NICHT MIT WÄSCHE WASCHEN... ODER FENSTER PUTZEN... DIESE HÖHLE WIRD JA BALD WIE EIN SCHWEINESTALL AUSSEHEN!» Sie kannte mich. Es wurde ein Schweinestall. Ich gab eine Annonce auf: «JUNGGESELLE SUCHT PUTZFRAU.» Putzfrau war damals noch kein Unwort. Und es meldeten sich zwei Spanierinnen, die mich heiraten, und ein thailändischer Boy, der sich «umbauen lassen» wollte.
Doch dann kam Linda. Sie war dunkelhäutig, trug eine Perücke und drehte eine Zigarettenkippe zwischen ihren Lippen hin und her. Die Asche fiel auf den neuen Spannteppich. Sie verrieb mit ihren Schuhsohlen den Dreck im frisch Gelegten und behauptete: «Ist gut gegen Motten!»
Linda blieb. Und der Dreck auch. Aber Linda war die Sonne in meinem jungen Leben. Sie wurde eine wunderbare Freundin. Und wenn wir kein Geld im Hause hatten, kochte sie Reis ohne Salz und würzte das Ganze mit ihren Geschichten.
Linda wusste nicht, wann sie geboren worden war. Man entdeckte das Kind neben ihrer toten Mutter. Und ihre Tanten aus New York adoptierten sie.
Manchmal erzählte sie auch, dass sie in Jamaika auf die Welt gekommen und eigentlich die heimliche Tochter eines Inselprinzen in der Karibik sei. Nur die Geschichte von den beiden Löwen, die sie grossgezogen hatten, liess ich nicht durchgehen.
Ihr Geburtsjahr war ein Geheimnis. Alles um Linda war ein Geheimnis. Ich schätzte sie auf etwa 50? ihr Freund war ein stilles Jüngelchen. Den konnte ich direkt fragen. Er war 19. Und er war total vernarrt in das Geheimnisvolle, das die dunkle Perle aus Jamaika (oder New York?) umwehte.
Linda tyrannisierte den Haushalt. Sie vergraulte alle meine Putzerinnen, bis Ginetta kam. Ginetta war Italienerin. Und Kummer mit alten Menschen gewohnt. Sie liess Linda murren, putzte still Aschenhäufchen und Zigarrenstummel weg, die Linda überall herumstreute. Überdies kochte sie ihr jeden Tag eine Suppe. MIT ESSEN KONNTE MAN LINDA BESTECHEN. Am besten mit Suppe. Die brauchte sie nicht zu beissen. Denn Lindas Zähne schaukelten wie eine Nussschale auf den Meereswogen. Das kam von der Schokolade, die sie sich tonnenweise reinhooverte.
Linda gab meinen ersten Einladungen einen bestimmten Glanz. Ich steckte ihr ein Diadem in die Perücke. Und liess sie bei Tisch auffahren. In einer ihrer Geschichten hatte sie mir weis gemacht, dass sie beim Earl von Badmington Hausdame gewesen sei. Sie habe dem adligen Knacker den Porridge jeweils in Strapsen ans Bett gebracht.
Ich liess ihr den guten Service durchgehen und schlug ihr deshalb den Job als Servicetochter bei Tisch vor. Kurz: ICH WOLLTE EINFACH MIT EINEM DIADEM-SERVICE DICK ANGEBEN!
«Typisch Trämlerstochter!», rümpfte Innocent die Nase. Bei ihnen wurde weder mit Strapsen noch mit Diadem serviert. Da gabs Suppentopf mit Vater als Schöpfer.
Linda verblüffte jedenfalls meine Gäste mit perfektem Plattenservice. Allerdings paffte sie dabei eine Marlboro und kratzte sich mit dem Schöpflöffel gerne im Kunsthaar. DENNOCH: SIE WAR EINE NUMMER. UND WURDE MEIN MARKENZEICHEN. Damals hiess es: «Man isst zwar schaurig bei ihm? ABER DIESEN PAFFENDEN SERVICE MUSST DU EINFACH ERLEBT HABEN!»
Manchmal verschwand Linda für Monate. Sie buchte sich die schönsten Kreuzfahrten durch alle Meere. Das Geld hatte sie sich in den Casinos zusammengezockt. Wenn nichts mehr da war, stand sie vor der Türe. Und wir kochten wieder Reis ohne Salz. Wenn die Glücksfee im Casino Pause hatte, setzte sie sich mitunter auch in den Zug. Und fuhr zweiter Klasse nach Rom in meine Wohnung. Da sie mager wie ein dürrer Ast war, machten es sich der Portiere des Palazzos und seine Frau Mimma zur Aufgabe, sie aufzumästen. Linda liebte sie dafür. Und sie liebten Linda.
Alle im Palazzo liebten Linda. Sie erzählte nächtelang ihre Geschichten und wie sie auf der Queen Mary zur «Ozean-Königin» erkoren worden sei. Natürlich verstand keiner ein Wort, obwohl sie mir immer wieder vorwurfsvoll versicherte: «Alles in Welt versteht mich... nur du bist Scheisskerlig und nix kapierst...!»
Sie muss nach meiner Zeitrechnung 86 Jahre alt gewesen sein, als sie unters Tram kam. Und vier Monate im Koma lag. Alle gaben sie auf? nur Walter, ihr Jüngelchen, das nun auch in die Jahre gekommen war, glaubte an sie: «Sie kommt wieder. Du wirst sehen.» Eines Tages schlug sie die Augen auf. Das Erste, was sie verlangte: «Zigaretten!» Dann: «Schokolade!» Die Ärzte sprachen von einem Suchtwunder...
Manchmal besucht mich Linda mit ihrem Freund. Er bemüht sich rührend um sie: «Sie ist etwas verwirrt... aber jetzt habe ich sie für mich alleine... es ist ein wunderbares Gefühl!»
Linda schaut mich mit ihren blauen Augen an. Sie trägt nun Kurzhaarschnitt: «Weisst du noch, als wir mit toten Kindern an sandiges Strand spielten?» Die Zigarettenasche fällt auf den Boden. Und sie lächelt: «Ich muss gehen... Schiff wartet!»
Von Linda und der Liebe zur Schokolade
Samstag, 23. Juli 2011