Von Karibikgeschichten und einer Hochzeitsnacht

Seit ich weiss, dass diese Schlange sich auf meinem Dach befindet, schlafe ich unruhig. Bei jedem Wispern wache ich auf. IN PANIK ZIEHE ICH MEINE SANDALEN AN. KEUCHE DURCH DEN WEISSEN SAND IN DIE HÜTTE VON INNOCENT. UND VON WEITEM SCHON HÖRE ICH DAS VERTRAUTE GERÄUSCH DER APNOE-MASCHINE. Ich drücke die Türe auf. Und wären wir hier nicht in der Karibik, könnte man denken, ein Elefant habe sich zum Schlafen hingelegt. IN DER KARIBIK GIBTS KEINE ELEFANTEN.
Menschen, die ihre Apnoe frühzeitig erkennen und dann von den Ärzten diese Atemmaske rumgewickelt bekommen, sehen allerdings immer ein bisschen aus wie dieser Elefantenmann, der in den Zwanzigerjahren die Jahrmärkte in Mitteleuropa aufgemischt hat.
«DIE SCHLANGE IST WIEDER DA!» Stille. Nur «CHRRRSCHLLSCHGRRSCHLLL».
Die Luft wird mittels eines Kleinstsauerstoffapparates via Staubsaugerschlauch direkt in die Nase transportiert. Schon die Beschreibung ist furchtbar? die Realität ist noch furchtbarer. Aber wenn ein Apnoe-Mensch so einen Apparat angeschnallt hat, kann er endlich selig durchschlafen.
NUR SEINE UMGEBUNG KANN ES NICHT.
Deshalb sollte zu jedem Apnoe-Apparat auch ein separates Schlafzimmer verschrieben werden. ABER SAGEN SIE DAS MAL DER KRANKENKASSE, DIE HEUTE JEDES FIEBERZÄPFLEIN VIERTELN WILL... Wir bezahlen also eine zweite Hütte ohne Kassenzuschuss. Immerhin sind wir ja schon dankbar, dass wir neben dem Bett einen Stecker gefunden haben. «DIE SCHLANGE IST WIEDER DA!» «Chrrrrrrrschlschl!» Seine Ohren liegen neben dem Zahnglas. Im Zahnglas schwimmt ein kleiner Skorpion eben mal eine Runde...
«DIE SCHLAAAANGE!» «Chrrrr... WAS ISSS...?»
«SCHLFFFFFFFFF»? wenn der Schlauch ab ist, tönt es, als ob das Badewasser abgelassen würde.
Innocent tastet sich zuerst zur Taschenlampe durch. Dann zum Zahnglas. Der Skorpion ist bereits eine Wasserleiche. Er hat sich beim Schwimmen übernommen. SPORT IST MORD. Das fängt schon beim Kleinen an.
Ich nehme Innocent das Wasserglas aus den Händen. Knüble die Wasserleiche raus. Und werfe sie auf den Boden. Dann hebe ich das Leintuch zu seinem 2-Meter-XXL-Bett: «Ich penne bei dir. Bei mir ist wieder die Boa...»
Nun richtet er sich auf? wie die Kobra vor dem Angriff: «JETZT MACH MAL HALBLANG! Du bist doch total gaga. Nur weil Roberto dir so einen Bockmist erzählen musste, drehst du jetzt total durch! DIE SCHLANGENGESCHICHTE WAR DOCH NUR EIN HARMLOSER WITZ. ES HAT DAS HOCHZEITSPAAR UND DIE BOA NIE GEGEBEN!»
Roberto ist der charmante Besitzer der zwölf Hütten hier am verlassensten Strand der Karibik. Als emigrierter Römer hatte er sich während der goldenen Börsenjahre in Miami eine diamantene Nase verdient. Mit dem Geld kaufte er in den frühen Neunzigern in Belize einige Kilometer Sandstrand, mehrere Tonnen Ebenholz und einen zündroten Ferrari. Die Belize-Menschen schwärmten für den schnittigen Mann im noch schnittigeren Wagen. Sie bauten ihm Hütten aus dem Ebenholz, deckten sie mit Bananenblättern ab? und fertig war das Paradies. Palmen, Sonne und einen Urwald voller Affen gabs gratis dazu.
Heute ist das «Kanantik» ein Stück vergessene Karibikidylle? und wenn sich mal ein paar Touristen zu den Hütten verirren, um Vögel oder Jaguare zu beobachten, lässt Roberto unter den Palmen die Tische weiss aufdecken. Und das Silber seiner Mamma selig («la Povera Divina») polieren.
Judith, seine Vertraute, serviert mit einem immer leicht spöttischen Lächeln, das alles und nichts heissen kann, die Leckereien der Insel: frisch gefangene Hummer an saftigen Mangowürfeln... schneeweisser Reis, in dem mit Honig marinierte Hühnerstückchen glänzen... die Schokotorte nach dem Rezept der «Povera Divina». ROBERTO WÜRZT DAS MAHL MIT DEN GESCHICHTEN VOM DSCHUNGELLEBEN. Und wie da mal ein frisch verheiratetes Paar in der Hochzeitsnacht mitten im schönsten... im schönsten... na ja, ihr wisst ja schon... also wie ihm da eine grüne Boa, dick wie ein Schwingerschenkel, vom Bananendach aus beim ganzen Hokuspokus zugelächelt hätte. UND AUS WARS MIT DEM SPIEL!
An dieser Stelle kann sich Roberto jeweils gar nicht mehr einkriegen, so sehr muss er über seine Geschichte lachen? ABER NACH DIESER ERZÄHLUNG DACHTE ICH NUR NOCH AN DIE GRÜNE BOA UND DEREN ZÜNGELNDES LÄCHELN. JEDEN ABEND SCHLICH SIE SICH NUN IN MEINE HÜTTE, OBWOHL DA NICHTS MIT HOCHZEITSNACHTODER SO...
Innocent schaute mich streng an: «Du bist jetzt 64 und...»? «46!», unterbrach ich eisig.
«... du bist jetzt 64 und mit deinen 210 Pfunden total ausgewachsen. ES GIBT NIRGENDS EINE BOA. Also nimm Valium. Und zieh Leine. Ich habe die ganze Nacht noch kein Auge zugetan und...»
AUCH DAS IST TYPISCH FÜR APNOE-MENSCHEN. WÄHREND DIE UMGEBUNG WEGEN DER RATTERKNATTERNDEN GERÄUSCHE EINE NACHT LANG TAGWACH BLEIBT, BEHAUPTEN DIE GESCHLAUCHTEN, SIE HÄTTEN KEINE SEKUNDE SCHLAFEN KÖNNEN!
Es schmerzt, wenn einen der einzige wahre Freund ins Elend hinausschickt. Und das Elend ist diese Hütte, wo im ebenhölzigen Gebälk zwischen den Bananenblättern dieses schenkeldicke Biest wartet und hofft, es würde noch einmal die Post abgehen wie damals... Ich habe leise gewimmert. Und gottergeben den Weg zur Hütte eingeschlagen. Vorher habe ich den abgesoffenen Skorpion vom Boden aufgehoben. Und in Innocents Zahnglas zurückgeworfen. Damit Roberto den nächsten Dschungelbesuchern etwas zu erzählen hat.

Samstag, 7. Mai 2011