Von Ilses erstem und letztem Morgestraich

Donnerstag Ilse wäre zu gerne einmal gegangen.
Aber in ihrem Alter... Nein, die Heimleiterin, Adelheide Schulze, eine energische Deutsche aus Bad Krozingen, hatte sie zur Seite genommen:
«Liebe Frau Kunz. Ich finde es ja rührend, aber wir wollen doch vernünftig sein!»
IMMER VERLANGTE DIE GANZE WELT VON IHR, VERNÜNFTIG ZU SEIN. ALLES WAR NUR NOCH VERBOT: KALORIENREICHES... GRÜNE MECHES IM HAAR... DIE SCHWÄRMEREI FÜR DEN JUNGKOCH LUCA.
«Es ist einfach ein bisschen lächerlich», hatte ihr die Schulze dazu etwas verstimmt erklärt.
«Und sicherlich ist es für Luca auch peinlich!»
Blödsinn.
Luca mochte sie. Immer wieder steckte er ihr ein Extrastück Kuchen zu. Oder mixte ihr heimlich einen Eiercognac.
Und schliesslich war Luca für sie der Grossenkel, den sie nie gehabt hatte.
Und der sie auch jetzt unterstützte:
«Natürlich gehen Sie, Frau Kunz. Ich lasse Ihnen die Küchentüre offen. Um sechs Uhr sind sie wieder zurück. Und kein Mensch ahnt etwas...»
«Es wäre mein erster Morgestraich, Luca!», strahlte ihn Ilse an.
UND ES WURDE IHR ERSTER MORGESTRAICH.
Noch in der Nacht, als sie vor Aufregung schlaflos in den Federn lag, schalt sie sich eine alte Närrin.
Ihre Gedanken jagten durch die Lebensabschnitte wie die Skifahrer durch die Slalomtore: Da war das kleine Mädchen, das nicht Fasnacht machen durfte... Einmal war es ausgerissen. Und hatte die Züge am Nachmittag bestaunt. Ein Polizist wurde auf das Kind aufmerksam. Er brachte die Ausreisserin heim. Die Strafe: vier Wochen Hausarrest.
Ihr Mann hatte später ebenfalls nichts von Fasnacht wissen wollen: Das sei Hurerei. Er kam aus dem Toggenburg. Und da wurden verkleidete Frauen mit «heiss auf Männer» gleichgesetzt.
Sie lebten dann über 40 Jahre in Zürich. Er arbeitete dort auf der Grossbank? sie hatte jeden Tag Sehnsucht nach dem Rhein. Nach der Weite am Dreiländereck? und dem Wind, der über die Grenzen in die Welt führte.
«Hier hast du doch eine internationale Grossstadt», wies sie ihr Mann auf dem Üetliberg ärgerlich zurecht.
Ilse sah nur Beton. Enge. Und hysterische Geschäftehuberei.
Als er nach dem dritten Infarkt den Besen abgab, kam sie zurück. Heim. Und kaufte sich in ein vornehmes Altersstift ein. Aber es war nicht mehr die Stadt ihrer Erinnerungen? nur die Fasnacht war geblieben. Und auch die hatte sich verändert.
Ilse hastete durch die Vorstadt. Gespenstische Gestalten zogen an ihr vorbei? Trommeln auf dem Buckel. Tanzende, klingende Messingglöckchen am Kostüm.
Sie wollte auf den Marktplatz? einmal den Vier-Uhr-Schlag mitten im Herzen der Stadt einatmen.
Zum ersten Mal... Das war wie noch einmal auf die Welt kommen.
Es war eisig kalt. Ilse fror. Aber die verschiedenen Laternen, die zum Abheben bereit vor den Beizen leuchteten, nahmen sie in ihren Bann. Sie spürte weder Kälte noch die Schneeflocken, die nun wie weisse Riesenkonfetti vom Himmel tanzten.
Dann kam der Vier-Uhr-Schlag.
Die Lichter erloschen. Die Menge jubelte auf? und wie eine riesige Lawine überrollte sie der Zauber dieses Moments, den ihre Stadt zum Zittern brachte.
Sie spürte wie die Schneeflocken sich mit ihren Tränen vermischten? und es war ihr plötzlich, als hätte sie nur noch für diesen einen Moment gelebt.
Zehn Tage später waren Luca und Adelheid Schulze die einzigen Menschen an ihrem Grab.
«92? ein schönes Alter...», meinte der Pfarrer. «... und ein schöner Tod», nickte die Heimleiterin. «Sie bekam am Fasnachtsdienstag plötzlich hohes Fieber. Und ist friedlich eingeschlafen.» Dann schaute sie etwas ärgerlich zu ihrem Koch. «Ich weiss nicht, ob Mimosen die richtigen Blumen für einen Friedhof sind, Luca.»
Luca sagte nichts. Und warf den Strauss mit den zartflaumigen Blüten auf den Sarg.
Keiner hat später das Grab von Ilse Kunz besucht. Doch immer kurz vor Fasnacht liegt bei ihrem Grabstein ein Strauss mit schwefelgelben Mimosen.

Samstag, 13. Februar 2010