«MANNAGGIA!»? stöhnen die Römer. Das heisst im deutschen Fäkaljargon SCHEISSE. Oder einfach «VERDAMMT!»
Franco also: «MANNAGGIA LA MISERIA!»
Sein Wortausbruch galt Elisa. Damals habe ich weder «MANNAGGIA LA MISERIA» noch Elisa gekannt.
Es ist 20 Jahre her. Wir feierten den Kauf der kleinen Wohnung beim Pantheon. Alle in bester Laune: die Anwälte der beiden Parteien, weil sie ein saftiges Honorar einstecken konnten. Der Verkäufer, ein jüngerer Conte, weil er wieder Knete fürs Casino hatte. Die Vermittlerin, weil sie eine saftige Provision kassierte. Und ich: endlich die eigene Toilette. Nicht mehr diese ätzend miefelnde Steh-Ritiratta im lichtlosen Zwischengang, ein Horrorort, den ich mit dem zahnlosen, aber stets blasenvollen Nando von der Wohnung gegenüber teilen musste.
Innocent war auch glücklich. Und dies, weil ich es war. So lud er alle zu einem Glas bei Orsi ein. Orsi ist unser Quartier-Weinhändler, der seinen Saft auch über die Gasse verkauft. Vom Fass in den Krug. Und für kaum zwei Franken pro Liter.
Wir stiessen also alle übermütig an, als sich eine etwa 50-jährige, elegante Frau dazugesellte. Franco, der Portiere, der Rom und unser Quartier erfunden hat, spuckte auf die Strasse: «MANNAGGIA!» Die Frau beachtete ihn nicht: «Je suis Elise», wandte sie sich zielsicher an Innocent. Der sagte «Ohlala». Und rief nach einem Glas für die Dame.
Elise freute sich nun auch. Und parlierte französisch von ihrer Hochzeit bei «Girardet» in Crissier. Und Innocent wieder «Ohlala», Franco dazu synchron: «Mannaggia la miseria!»
Als junges Mädchen war Elisa von ihrem Vater, einem römischen Schrotthändler, von der Porta Portese nach Lausanne ins Internat für bessere Töchter geschickt worden. Dort wurde die wilde Elisa zur vornehmen Elise. Der Schrott machte es möglich.
Auf einem Spaziergang lernte Elise Louis, den Rebbauer kennen. Na ja? sie triebens wild. Das war dann wieder Elisa. Weil so etwas dem Internat nicht ins Nähkästchen passte, flog Elisa raus. Und der Rebbauer total auf sie. Es kam zur Heirat. Achtgangmenü bei «Girardet». Und ein Leben in Montreux, das vom Weisswein der Umgebung und Langeweile geprägt war: «Irgendwann wachte ich auf. Schaute auf den Genfersee. Und hatte Sehnsucht nach den Meereswellen von Ostia.» Elise nahm noch einen Schluck. «Es war einfach alles ausgelutscht. Ich hatte das kleine Land mit seinen artigen Blumenfenstern satt. Vor allem aber Louis. Er ging nur noch in die Reben? und die Flaschen, die er heimbrachte, waren kein Ersatz. Also schrieb ich ihm einen Brief. Verlangte die Scheidung. Und kam nach Rom zurück? nur um das Meer von Ostia zu hören!»
«Mannaggia!», spuckte Franco aus.
Seither habe ich Elise immer mal wieder gesehen? wenn sie bei Luciano ihre Pizza bianca einkaufte. Oder bei Enzo den Daniele-Schinken hauchfein aufschneiden liess.
Es war dann auch Enzo, der mir als erster zuraunte: «Signora Elisa sta male...» In Rom war Elise wieder Elisa. Tatsächlich magerte die Frau ab. Ihr volles, langes Haar wurde filzig und stumpf. Die Kleider waren plötzlich löchrig, der Pullover geschlissen. Doch stets, wenn sie mich auf der Strasse entdeckte, strahlte sie wie einst Elise: «Oh, Signore Svizzero... come va?»
Ich war immer für einen Schwatz gut. Und Elisa stets bestens über die Probleme unseres Landes und die helvetische Politik informiert: «Wir haben Berlusconi... die Schweiz hat die Bankiers... und so hat jeder sein Leid.» Elisa las fünf Zeitungen am Tag: «Sie hätten nicht zufällig fünf Euro, damit ich meine Blätter kaufen kann? Ich habe den Geldbeutel zu Hause vergessen und...»
«MANNAGGIA!», spuckte Franco aus. Ich gab Elisa die fünf Euro. Und dachte mir nichts dabei. Etwas später traf ich sie bei Enzo, der ihr zwei Scheiben vom Daniele-Schinken feinschnitt und abwinkte, als sie zum Portemonnaie griff: «Schon recht, Signora? va bene!» Als sie gegangen war, flüsterte er mir zu: «Sie lebt jetzt auf der Strasse. Sie haben ihr die Wohnung genommen. Aber sie wahrt den Schein... und kauft jeden Tag ihre Zeitungen...» Ich eilte aus dem Laden. Und traf sie vor dem Fischladen, wo sie in einem Papierkorb nach Essbarem stocherte.
«Elisa!»? sie schaute auf. Wurde verlegen: «Die Leute werfen die Zeitungen einfach weg», sagte sie vorwurfsvoll. Ich drückte ihr 50 Euro in die Hände: «Kaufen Sie sich die Blätter am Kiosk!»
Elisa drückte mir die Hand. Lächelte, «merci!», und war wieder Elise, die mir im besten Französisch erklärte: «Seulement une petite baisse, Monsieur!»
Immer wenn Elise mich nun sah, war ich für einen Fünfziger gut. Und «MANNAGGIA!», tobte Franco. «Sie könnte in ein Heim für Obdachlose ziehen! Aber dazu ist sich die Signora zu vornehm!»
Von Enzo weiss ich, dass Elisa wie so viele Obdachlose einen Karton mit sich führt. Abends breitet sie ihn als persönlichen Futon auf den Pflastersteinen von Rom aus. Und wickelt sich in Wolldecken und ihre Tageszeitungen ein. Als vor ein paar Wochen das heftigste Gewitter seit Jahrzehnten die Autos wie Zigarettenkippen von den Römer Strassen spülte, dachte ich bei jedem Donnerschlag an Elisa. Was macht sie? Schutzlos? Wo liegt sie?
Ich schlüpfte in Innocents Gummistiefel, jagte aus dem Hinterhof zum grossen Portale? und sah, wie Franco in seiner Portiere-Loge niederkniete. Er streckte einem tropfnassen Wollbündel einen Kartonbecher mit dampfendem Cafè zu. Das Wollbündel war Elisa. Und Franco grinste: «Ich habe sie beim Pantheon in einem Hauseingang gefunden. Mimma holt ihr nun trockene Kleider und Tücher. Dann soll sie bei uns ein heisses Bad nehmen.»
Die Römer haben ein düsteres Mundwerk. Aber ihr Herz ist von tausend Sonnen beschienen.
Franco reibt sich die Nase. Grinst mir entgegen. Und spuckt aus: «Was für ein Wetter? MANNAGGIA LA MISERIA!»
Von Elisa und Mannaggia la miseria
Samstag, 12. November 2011