Von einer Hochzeit, die gar keine war?

«Als unsere Maestra» die weissen Blätter verteilte und wir einen Aufsatz zum Thema «Mein schönstes Fest» schreiben sollten, ist mir sofort «il matrimonio del mio fratello» in den Sinn gekommen.
Alfredo ist mein einziger Bruder. Er ist neun Jahre älter. Und in unserem kleinen, sizilianischen Ort Giardini Naxos gelten wir als «kleine» Familie. Da hat jeder mindestens drei bis vier Kinder.
Alfredo ist der beste Bruder der Welt. Vielleicht weil er stets anders war als andere Ragazzi. Ich meine: kein Fussball? keine Skooter-Rennen am Strand? nein: Irgendwie war um ihn stets diese Traurigkeit, die mich auch traurig machte.
Mit Mädchen war nichts. Dabei war Alfredo zweifellos der schönste junge Mann unter unsern 10 000 Einwohnern. Die Mädchen sind ihm nachgelaufen wie heisse Hündinnen. Er hat sie abblitzen lassen. Das hat sie nur noch schärfer gemacht.
Als dann die Sache mit Heinz geschah, stand unser Städtchen Kopf. Heinz hatte 14 Ferientage in Taormina gebucht. Alfredo traf den jungen Arzt aus Deutschland am Strand. Bald einmal brachte mein Bruder den Mann heim ? meine Eltern waren freundlich. Aber sie schwiegen ? das heisst: Sie sprachen mit Alfredo nie über sein Problem. Und über sein «Anderssein».
In Sizilien lieben viele Männer andere Männer. Das ist eigentlich kein Problem ? auch wenn die Jungs einander «Checca» als Schimpfwort zurufen. Man darf offiziell einfach keine Schwuchtel sein.
Alfredo zog dann mit Heinz nach Deutschland. Meine Mutter erzählte den Leuten, er wolle «in Freiburg Arbeit finden?». Aber natürlich tuschelten die Leute hinter unserm Rücken. Sie wussten Bescheid. Und meine Eltern gingen am Sonntag nicht mehr in die Kirche, weil sie sich schämten.
Ich traf mich mit Alfredo jeden Abend auf Skype. Wenn die Alten vor dem Fernseher sassen, rief ich ihn an. Er erzählte mir von seiner Liebe? von seinem Leben in Deutschland? einem andern, freieren Leben.
An Weihnachten kam er nicht nach Hause. «Er hat Arbeit als Koch und muss arbeiten», erzählte meine Mutter den Leuten. Aber er hatte meine Eltern vor die Wahl gestellt: Entweder komme er mit Heinz ? oder gar nicht. «Dann eben gar nicht», tobte mein Vater, «ich will diese Schande nicht in meinem Haus!»
So weinten wir alle ? auch Alfredo.
Eines Tages erzählte er mir, dass Heinz und er heiraten würden. In Deutschland gehe das. Mann mit Mann. Bei uns ist so etwas unvorstellbar. Er erzählte, sein gröss­ter Wunsch sei, dass ich an dieses Fest kommen würde. Und auch die Eltern. Aber das sei wohl unmöglich. Da habe ich mein Herz in beide Hände genommen. Und bin zu Padre Nicola. Bei ihm ist Alfredo in den Unterricht gegangen. Und ihm habe ich alles erzählt.
Der Padre hat mir lange zugehört. Und mich getröstet. «Italien ist noch nicht so weit?», hat er gesagt. Ich habe das nicht richtig verstanden. Aber er hat gelächelt, ich solle ihm vertrauen. Und auch der Mutter Gottes. Sie habe noch nie ein Kind verstossen.
Dann hat Padre Nicola lange mit meinen Eltern gesprochen. Und mit ein paar Leuten in unserer Gemeinde. Die diesjährige Pilgerreise sollte nämlich nach dem bayerischen Marktl gehen. Das ist der Geburtsort unseres alten Ex-Papstes. Und weil Padre Nicola in München studiert hat, wollte er seiner Gemeinde die Schönheiten von Bayern zeigen.
Nun war natürlich wieder ein grosses Getuschel im Dorf. Denn Nicola hatte auch einen Abstecher zu Alfredo eingeplant. Wir sollten ihn alle an seinem Fest überraschen. Es war nun also offiziell, dass mein Bruder in Deutschland mit einem Mann zusammenlebte. Und dass er diesen gar heiraten würde. Zuerst klopften nur wenige Leute in unserm Haus an: «Wir kommen zum Fest von Alfredo?» Keiner hat das Wort «Männer-Hochzeit» erwähnt. Man redet nicht über solche Dinge. Aber ein FEST ? das ist eine grosse Sache. Und alle freuten sich.
Erstmals nach langer Zeit gingen meine Eltern wieder zur Kirche. Nach dem Segen trafen sich die Leute auf der Piazza. Die Mädchen und Frauen diskutierten, was man Alfredo zum Fest mitbringen solle. ? «Vielleicht eine Wiege?!», lachte die alte Loredana. Für einen Moment war alles still. Dann aber lachten alle mit. Und versicherten meinen Eltern, wie sie sich freuen würden, Alfredo wiederzusehen?
Zwei Tage hat die Reise gedauert. Wir waren eine Karawane von drei Autocars ? sechsmal so viel wie auf den normalen Pilgerreisen. Aber das war ja auch nichts Normales ? das war Alfredos Fest.
Die Hochzeit hat dann in der Schweizer Stadt Basel stattgefunden ? in einer prächtigen Kirche, die der heiligen Elisabetta geweiht ist. Und wo ? so hat man uns erzählt ? sogar Tiere zum Gottesdienst kommen dürfen.
Unsere Gemeinde hat sich draussen aufgestellt. Als sich dann das grosse Portal öffnete, als da Alfredo mit Heinz heraustrat ? nein: Diesen Augenblick werde ich wohl ein Leben lang mehr vergessen. Wir Sizilianer applaudierten wie verrückt, riefen: «Evviva! Evviva!» (Und natürlich hätte niemand gewagt «evviva i sposi» zu rufen) ? Alfredo aber weinte, ja unsere Dorf-Überraschung schüttelte ihn so richtig durch. Wir alle heulten mit ihm. Und ich glaube, dass der Fluss in dieser Stadt für ein paar Minuten sizilianisches Hochwasser führte.
Nach einem kurzen Zögern hat meine Mutter dann auch Heinz in die Arme genommen. Bald einmal wurden die beiden Männer von ganz Italien abgeküsst. Das Fest, das daraufhin abging, war mindestens so schön wie sechsmal Weihnachten mit Alfredo.
Apropos? ihre Hochzeitsreise (die bei uns natürlich keiner so nennt) führt durch Sizilien. Und wenn die beiden übermorgen bei uns in Giardini Naxos ankommen, wird der ganze Ort auf den Beinen sein.
Sicher könnt ihr nun verstehen, dass das schönste Fest die Hochzeit meines Bruders war ? und dies, obwohl es ja offiziell gar keine Hochzeit war?

(Nach einem Schulaufsatz von Raphaela S.)

Dienstag, 25. Juni 2013