Als ich hörte, dass Arthur Cohn im Basler Eldorado eine Filmwoche startet, musste ich an «Behind the Sun» denken. Von allen Cohn-Filmen ist er mir der liebste. O. k. Ich liebe alle seine Filme. Auch «Central Station». Cohn hat der brasilianischen Filmszene wieder Atem eingehaucht. Das haben auch die neidischsten Cohn-Meckerer nie weghusten können.
Ich stehe vor dem Plakat mit dem Bild von Rodrigo Santoro. Rodrigo war damals der Schwarm von Brasiliens Weiberwelt. A Womanizer! Seine Popularität polierte er mit einer eher dürftigen Fernsehserie auf. Dort brachte er Tag für Tag die Frauen zum Vibrieren. Später erzählte er: «Als ich die Chance bekam, in einem Cohn-Film mitzuspielen, sagte ich sofort zu. Erstens, weil mir Cohn eine ganz andere Figur als diejenigen des immer heissen Helden anbot. Zweitens, weil Walter Salles Regie führte. Und drittens, weil es eine einmalige Chance war? der Weg, in einen Cohn-Film einzumarschieren, ist lange.» DAS KANN MAN WEISSGOTT SAGEN! Mich führte er zwei Tage nonstop von Basel bis in den brasilianischen Urwald.
Der Drehort hiess Ibiraba. Bestand aus ein paar Dutzend Lehmhütten. Und hatte keinen Strom. Die Regierung hatte den Einwohnern von Ibiraba seit vielen Jahren schon das Elektrische versprochen. Endlich sollte es so weit sein. Doch dann kam Cohn. Er hatte für seinen Film genau diese Szenerie gesucht. Er versprach den Leuten von Ibiraba, eine bequeme Strasse nach Barra zu bauen? dafür sollten die Einwohner nochmals drei Monate auf den Strom verzichten. Und ihr Umfeld nicht verändern? ein Umfeld, das genau in die Szenerie von «Behind The Sun» passte. Und ins Jahr 1900.
Der Weg zum Glück war mühsam. Und lang. Nachdem ich bereits 18 Stunden unterwegs war, musste ich in einen dieser kleinen Motorenhüpfer umsteigen. Im Flugzeug waren ein Transvestit, der ständig an seiner Perücke rumfummelte, sowie eine kleine Nonne in blütenweisser Kluft und Rosenkranz. Diesen knetete sie bei Start und Landung. Irgendwie war ich beruhigt: Wo so viel Inbrunst zu IHM sprach, konnten wir nicht abstürzen.
Es verflogen Stunden und unter uns war immer nur Wald, Wald und Wald. Urwald eben. In mir die bleierne Schläfrigkeit? neben mir die Perücken-Fummlerin und das ewige Gebet. Endlich sahen wir eine Lichtung. Die Maschine torkelte runter. UND JETZT STÜRMTEN PLÖTZLICH HEERSCHAREN VON REPORTERN DIE GRASPISTE!
«Ach Arthur, du verrücktes Huhn!», dachte ich. Aber die Paparazzi stoben am Transvestiten und mir vorbei zur Nonne. Sie war eine grosse Nummer unter ihresgleichen. Und soll schon Erscheinungen gehabt haben. Nun musste sie im Herzen des Urwalds ein Spital segnen.
Ein kaffeebrauner Alter klopfte mir auf die Schulter. Spuckte ein Stück zerkautes, rotbraun tropfendes Zuckerrohr aus dem Mund. Und zeigte auf einen Jeep, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. So ratterten wir nochmals drei Stunden über Stock und Stein, durch ausgetrocknete Flussbetten und rauschende Bäche. Über uns war der herrlichste Sternenhimmel, den der liebe Gott je rausgehängt hat. Neben mir Millionen von Leuchtkäfern, die in der angestauten Hitze ihre Liebessignale abgaben.
Endlich stoppte die Kiste vor einer Lehmhütte? Arthur grinste: «Willkommen in Brasilien!»
Ich konnte mich eben noch auf eine Pritsche legen. Und war weg. Als ich erwachte, waren zwölf Stunden vergangen. Und 48 Grad. Ich äugte nach einer Dusche. Aber da waren nur viele lustige Käfer, die sich über mein Gepäck hergemacht hatten. Und Lehm. Viel Lehm. Damals habe ich Rodrigo Santoro zum ersten Mal gesehen. Er stand vor meiner Hütte. Ich war stinkig. Verschwitzt. Und die Haare? ach, reden wir nicht davon...
«Hi!», sagte Rodrigo. Er grinste. Da wusste ich, weshalb so viele brasilianische Frauen bei seinem Lachen hysterisch zu schreien anfingen. Rodrigo zeigte mir die Dusche. Sie stand unter einem Mangobaum. Und es war die einzige am Ort.
Der Boden des kleinen, seit Jahrzehnten ausgestorbenen Dörfchens war Sand und Lehm. Wilde, kleine Schweine mit Hängebäuchen grunzten herum. Und in den Bäumen hingen Vögel? bunt wie ein brasilianisches Karnevalskostüm.? Natürlich war die Umgebung ein Zauber? ein Stück vergessenes Paradies. Gedreht wurde nur abends. «Ich weiss, dass das alles ein bisschen verrückt aussieht», entschuldigte sich Arthur bei mir. «Und du wirst dich fragen, weshalb bleibt diese Crew bei solchen Bedingungen hier. Warts ab, bis heute Nacht. Dann kapierst du alles...»
Acht Uhr abends wurde gedreht. Gigantische Generatoren schufen Kunstlicht. Und plötzlich hatte der Urwald etwas von einem surrealen Gemälde. Es war noch immer 35 Grad. Aber immerhin. Sie drehten eine Zirkusszene. Und ich werde diese gespenstischen Figuren in der Urwaldkulisse nie mehr vergessen.
Nach Mitternacht hörte man aus der Ferne ein Flugzeug. Eine Stunde später stand da unter dem Sternenhimmel ein 40 Meter langer, weissgedeckter Tisch. Dutzende von Kerzenleuchtern spendeten Licht. Und aus einem Kleinflugzeug, das aus Salvador eingeflogen war, wurden Platten, Eisberge und Schüsseln herausgetragen. Männer in weissen Uniformen bauten eines der schönsten Buffets auf, das ich je gesehen habe.
«Ausnahmesituationen verlangen ausserordentliche Massnahmen? alle freuen sich jeden Abend auf dieses Bankett im Urwald», lächelte Arthur. Rodrigo sagte später zu mir: «Er denkt, es sei dieses Bankett, weswegen wir hier bleiben, aber wir bleiben seinetwegen. Weil wir spüren, wie sehr er den Film liebt. Den Film und die Menschen hier.»
Später, als «Behind the Sun» den Golden Globe Award bekam, sah ich Rodrigo in Hollywood wieder. Er trug nun einen schwarzen Anzug. Und Schlips. Die Frauen schrien noch immer, wenn er auftauchte. Ich schrie auch. Als er mich sah, fragte er: «Kennen wir uns?» «Wir hatten mal dieselbe Dusche», sagte ich.
Von einem Trip in den Urwald und «Behind The Sun»
Samstag, 25. August 2012