Die Bahnhofsuhr von Bologna steht auf kurz nach halb elf.
Damals, als dieses schreckliche Attentat Menschen mordete, Scheiben in der nahen Umgebung splittern liess und Bologna für kurze Zeit auf die Titelseiten der Zeitungen dieser Welt katapultierte, da war die Uhr stehen geblieben.
Die lokale Regierung sah darin einen göttlichen Wink und entschied, das Zeitzeichen so zu belassen. Nun zeigt die Bahnhofsuhr von Bologna, dass es auf der Welt immer kurz nach halb elf sein kann.
Marco holt mich am Bahnhof ab. Sein knallroter Ferrari funkelt schon von Weitem wie ein Tomatenfeld.
Und natürlich ist der Ferrari jedem Basler Landei peinlich. Man fährt da auf zu hohen Touren.
Das Schöne an einem Ferrari: Du bekommst auf dem Stiefel keine Parkbussen. Die italienische Polizisten lümmeln um den Wagen herum, bewundern die Details und tätscheln liebevoll das Polster... kurz: Sie tun nichts, was sie bei einer schönen Frau nicht auch tun würden, und zollen dem Besitzer der Kostbarkeit entsprechend anerkennende Bewunderung: «Schönes Stück!»
Wahrscheinlich haben sie bei meinem Freund aus Bologna auch ein solches erwartet. Jedenfalls sind sie leicht schockiert, wie Marco die helvetische Fettwurst umarmt und diese nach der Begrüssung ungelenk? HUCH!? wie ein Kartoffelsack in dieses verdammt tiefe Polster kracht? DAS IST EIN GRUND, WESHALB ICH HOHE JEEPS, LASTWAGEN ODER MOPEDS DIESEM ALTERSKNOCHENFEINDLICHEN RENNSCHLITTEN VORZIEHE!
Die Polizisten salutieren: «Arrivederci, Dottore Ferrari.»
Marco schickt ihnen lässig ein V-Zeichen. Dann faucht der Wagen auch schon durch die Via Indipendenza.
Und statt, dass die Menschen wie bei uns mit den Stinkefingern neidwütend hinter ihm herfuchteln («DU UMWELTSAU!»), rufen sie in Italien «bravo», applaudieren, schwenken Mützchen, und ich denke: «Hoffentlich ist keiner aus Basel da!»
Ich bin Marco erstmals an einer Vernissage der Liste begegnet. Die drei Bilder, wütende Farbexplosionen, die in ihren eiskalten Farben etwas Bedrohendes hatten, sprangen mir sofort ins Auge.
Ich stand festgefroren vor den ungerahmten Werken.
Der Galerist, ein junger Mailänder, grinste:
«Das sind drei echte Ferrari? und dort ist ihr Schöpfer.»
Marco war nicht das, was ich mir unter einem jungen dynamischen Liste-Künstler vorgestellt hatte: Er trug einen eierschalenfarbenen, massgeschneiderten Anzug. Dazu helle Wildlederschuhe von Ferragamo. Und eine himmelfarbene Krawatte mit den galoppierenden Pferdchen von Hermès.
«Ferrari», stellte er sich vor, «Marco Ferrari und Fahrer eines eben solchen...» Er sah, wie ich die Augenbrauen hob: «... nein, nicht mit der Familie verwandt, aber so tuend als ob... das erleichtert in der Gegend um Modena und Bologna einiges... Sind Sie interessiert?» Er meinte an einer Fahrt im Ferrari. Ich dachte an die Bilder. Und wusste, dass ich mir beides nicht leisten konnte.
(Schon drei Jahre später bereute ich es, für den Kauf der drei Bilder nicht einen Bankkredit aufgenommen zu haben. Die Kreditzinsen fielen parallel so rapid wie die Preise für Ferraris Bilder stiegen. Nach einer Ausstellung in der Londoner Tate und in New Yorks Art-Gallery war der Mann aus Bologna «gemacht». Und ich hätte gescheiter in Ferrari statt in UBS-Aktien investiert.)
Immerhin? wir wurden Freunde. Chatteten übers Internet. Und schickten einander digitale Neujahrskarten. Als mich ein Schreibauftrag ins Land der Mortadella spülte, mailte er: «Wenns um die Wurst geht, wurstet keiner besser als Ferrari... Ich hole dich ab!»
Marco zeigte mir dann das lukullische Bologna, mit all seinen Hintergassen am Rücken der Piazza Maggiore, wo die Himmel voller Mortadella hängen und die engen Strässchen betäubend nach frisch gezupftem Basilikum, Oregano oder Timo duften. Ich stehe genauso sprachlos vor all den Pastaläden und Wurstwundern wie damals vor den drei Bildern Marcos.
«Bologna ist der Bauch Italiens», nickt dieser stolz.
«Wir haben die dickste Wurst der Welt und die herrlichste Salsa für Spaghetti erfunden? la Bolognese!» Er führt mich in eine Metzgerei: «Ecco? das ist mein Papa! Er verkauft die beste Mortadella der Region und hat sie früher noch selber zubereitet? Mortadella Ferrari, das war ein Begriff. Aber heute interessieren sich die Menschen weniger für gutes Essen als für schnelle Autos... So ist uns zumindest der berühmte Name geblieben...»
Vater Ferrari schaut seinen Sohn vorwurfsvoll an? dann zu mir: «Er wäre ein wunderbarer Metzger geworden. Wie alle in unserer Familie. Aber für ihn musste es immer etwas Besonderes sein... Nun kleckst er Millionen zusammen. Mit Bildern, von denen ich so viel verstehe wie von der Osterpredigt des Papstes. Was nützt mir ein Ferrari zum Geburtstag, wenn ich keinen Enkel habe, der meinen Laden weiterführt?»
Später ist Marco mit mir in seinem Auto in eine dieser Luxusgourmetoasen der Umgebung gebraust.
Es standen drei andere Ferraris auf dem Parkplatz. «Du verstehst, dass ich mit dem Autonamen besser fuhr...», lachte Marco. «Der Mortadella-Ferrari wäre irgendwie falsch gewesen.»
Das Essen bestand aus molekularischen Sürprisen wie etwa einem geeisten Würfel, der auf dem Gaumen aufkrachte und den konzentrierten Duft von Mortadella freigab. «Ist das nicht unico? Einzigartig?», strahlte Marco.
«Ja», seufzte ich. Und trauerte mit Vater Ferrari.
Von einem roten Ferrari und Mortadella
Samstag, 8. Mai 2010