Also, wer nett zu Wagner ist, sollte auch freundlich zur Umwelt sein. DESHALB FUHREN WIR VON MÜNCHEN MIT DER BAHN NACH BAYREUTH. Für den Ticketpreis hätte ich auch eine Vorstellung an der New Yorker Met buchen können. Aber die Reise führt gemütlich über Wiesen und Auen. Nach Nürnberg schüttelt einen die Regionalbahn durch die Wälder? ALSO DAS IST DANN SCHON FAST WIE DIE ROMANTISCHE OUVERTÜRE ZUM SCHWAN. Aber der Inhalt dieser Sardinenbüchsenwagons wirkt bizarr: Männer, die Kleidersäcke hochhalten... Frauen, die sich den Schweiss von der Nase pudern... und auf jedem zweiten Knie ein Textbuch zu Lohengrin. DRAUSSEN TANZEN KÜHE UND SCHWEINE VORBEI. Aber wen kümmert das schon, wenn in sechs Stunden der nächste Schwan abgeht...
Bayreuth ist eine Studentenstadt, in der die Studierenden während der Festspielzeit das Weite suchen. Die jungen Menschen werden gegen die alten Wagner-Freunde der Opernwelt ausgetauscht. Solche erwarten uns am Hoteleingang: alle in militärischer Zweierreihe. Alle schwarz bauchgebunden. Und alle mit diesem leicht tragischen Blick, der einer Wagner-Aufführung vorangeht...
Mein fitter Vetter bläst sich beim Anblick der Menschenmasse auf wie ein Heissluftballon vor dem Start. Doch dann meckert er auch schon los: «Da hats ja nirgends deine versprochenen scharfen Bienen! DAS HIER IST DOCH DER REINSTE ALTERSHEIMAUSFLUG.»
JA HALLO? DA WAR ABER DIE LUFT RAUS!
Ok. Ich habe ihm Bayreuth mit dem Versprechen heiss gemacht, es wimmle von jungen Studentinnen. Und natürlich sind diese dauergewellten britischen Stiefmütterchen nicht unbedingt der passende Ersatz. Auch die etwas welke Ikebana-Gruppe aus Kyoto bringts ihm nicht. ABER SO EIN FRUST IST JA PROGRAMMIERT, WENN SICH DAS GANZE KULTURELLE INTERESSE NUR IN DER JOGGINGHOSE ABSPIELT!
«Wir machen jetzt eine Entdeckungstour durch die Stadt von Richard Wagner. Und das wird lustig...», versuche ich etwas peppige Stimmung ins melancholische Dunkel zu bringen. Ebenso gut hätte ich eine Gewitterwolke mit einem Streichholz erhellen können... Nun ist Bayreuth ja nicht gerade der Ort, wo Hip-Hop-Partys abgehen. Es hat zwar einen Sexladen mit der buntesten Dildo-Auswahl der Region. Und da existiert auch eine Wasserpfeifenboutique mit Internetanschluss? ansonsten aber stösst man überall auf den guten, alten Richard: als weisse Pralinenfigur... als Zahnglasdekor... oder auch als Sonderbriefmarke.
Da ich aus Erfahrung weiss, dass Hunger schlechte Laune macht, führte ich Toms Nörgelstimmung auf den leeren Magen zurück und den Vetter deshalb in einen Biergarten, wo sie alles zur Sau machen. Da sein durchtrainierter Magen sich jedoch tierisch gegen jegliches Tier sträubt, wichen wir auf den vegetarischen Knödelgang aus. Die Kugeln hatten die Grösse eines WM-Fussballs und auch dessen Konsistenz. Aber immerhin schien das Stärkemehl der deutschen Erdäpfel eine beruhigende Wirkung auf den Vetter zu haben? er gab sich plötzlich ganz friedlich und war auch nicht abgeneigt, das Opernhaus der Landgräfin Wilhelmine zu besuchen. Als dort jedoch auf der Bühne dieses allerliebsten Prinzentheaters eine ältere Frau in die Harfe griff, flüsterte Tom: «Nichts wie raus hier, bevor sie ihr Instrument zerzupft hat und diese ganze Bude zusammenbricht!»
Wir hatten den «Parsifal». Und wer «Parsifal» hat, der weiss, dass dieser kaum vor fünf Stunden zu singen aufhört. DOCH SIEHE DA? ES KAM SO ETWAS VON ANDERS!
Auf der Bühne herrschte ein Betrieb wie am Schlussverkauf von C&A. Engel flatterten aufgeregt herum. Es tat sich allerhand in Kundrys Bett. Und als dann im zweiten Akt dieser grossartige Regisseur mit dem schönen Namen Stefan die herrlichen Töne noch durch Berliner Revuegirls aussschmückte? JA HALLO! DA HÄTTET IHR DEN VETTER ABER SEHEN SOLLEN. Er klopfte sich auf seine muskulösen Schenkel und gab immer wieder begeisterten Zwischenapplaus, was aber die Traditionalisten im Publikum mit zischenden «PSCHHHHHHHTS!» reagieren liess. Neben mir schüttelte eine bläulich Gefärbte die gesprayten Locken. «Wie kommt diese Kultursau auf einen Logenplatz?» Ich tat, als ginge mich alles nichts an. UND KANNTE MEINEN VETTER NICHT.
Die zwei langen Pausen nutzte Tom, um bei einer Käsepizza und zwei Gläschen Didelheimer Sekt die einzige Wagner-Anhängerin unter 40 Jahren anzubaggern. Sie heisst Hilde. Ist aus Bad Krozingen. Und war mit Grosstante Waltraud zum Hügel gepilgert. Plötzlich fand Tom das Festspielhaus keine alte Bruchbude mehr. Er schwärmte für die Akustik und wusste nicht, wovon er sprach. Er war auch nicht enttäuscht, als ihm die nette Frau von der Billettkontrolle erklärte. «Nein? einen Popcorn-Apparat gibts hier nicht!» Kurz: Er war verliebt, wie es die Menschen nur in Mozart-Opern sind. UND DAS HIER WAR WAGNER!
Als mich Adrian, unser Bayreuth-Fan und Überbringer der Logenplätze, anrief: «... und wie hat es Tom gefallen?», hätte ich den Hörer gerne an den neuen Wagner-Fan weitergegeben. Der aber stand beim Bahnhof, hielt Hildes Händchen. Und versprach ihr, im nächsten Jahr wiederzukommen. Zurück im Hotel blaffte er mich an: «Weisst du, wo man in Basel günstig einen Smoking kriegt?»
Von einem neuen Wagner-Fan und falschem Zwischenapplaus
Samstag, 4. September 2010