Abdul zieht den Karren durch unsere kleine Gasse. Abdul ist früh. Die meisten Türken haben eben erst das Teewasser aufgesetzt.
Abdul sammelt Abfälle ein? Abfälle aller Arten.
Um sechs Uhr kontrolliert er bereits die öffentlichen Kehrichtkübel auf dem Taksim-Platz. Wie Aschenputtels Tauben trennt er die Schätze: Plastikflaschen hier? Colabüchsen dort... Papier in die Kiste.
Abdul hat alte, rissige Finger. Keine Schutzhandschuhe. Keine Zange. Er ist gewohnt, mit seinen Händen zu arbeiten. Schon als Kind hat er Abfälle eingesammelt. In Istanbul sind es über 10 000 Männer, die mit Abfallsammeln ihren Tageslohn zusammentragen.
Wenn die öffentlichen Kehrichtkübel durchsucht worden sind, holt Abdul den grossen, hölzernen Handkarren, mit dem er schon an der Seite seines Vaters durch die Gassen gezogen ist. Jetzt sammelt er Altmetall ein? kaputte Gusseisenpfannen, Brennöfen, Baklava-Bleche.
Abdul macht das, was bei uns die Kehricht- und die Metallabfuhr macht. Allerdings, ohne dass jemand eine Marke aufkleben muss. Denn mit dem Dreck, den die andern ihm zurücklassen, kann Abdul überleben. Und seine beiden Söhne aufs private Gymnasium schicken. Bei Allah: SIE SOLLEN ES EINMAL BESSER HABEN!
Es ist Frühling in Istanbul. Aber vom Goldenen Horn weht noch immer dieser eisige Wind, der die Türken in wattierten Jacken herumhasten lässt. Und die alten Frauen in Wolltücher gewickelt.
Trotz bissigem Wind? ich geniesse die frühen Sonnenstrahlen an einem der runden Zwei-Leute-Tischchen bei Hafiz Mustafa. «Hafiz» ist so etwas wie der «Sprüngli» von Istanbul? eine Süsskette, allerdings älter als Sprüngli und mit einer Kuchenauswahl, die bereits um acht Uhr morgens in allen Farben einen bunten Tag verspricht. Vis-à-vis werden am Ladentresen die Turkish-Delights und Baklava abgepackt. Istanbul ist die Stadt, wo der Honig dem Süssmaul auf die Zunge tropft.
Ich bestelle ein Gläslein mit Chai, diesem starken Tee, zu dem die Kellner immer zwei Mini-Würfelzucker und ein Lokum-Plätzchen legen. Manchmal bestelle ich einen zweiten Tee. Nur wegen des Lokum-Plätzchens. In dessen Masse hat der Zuckerbäcker Pistazienkerne eingeknetet.
Um neun Uhr führt Kenan seine Eltern in die Istiklal Caddesi. Die «Istiklal» ist die berühmteste Geschäftsstrasse Istanbuls. Verkehrsfrei. Ausnahme allerdings: eine antike, holprige und feuerwehrrote Strassenbahn. Diese bimmelt die Passagiere als Touristenattraktion ratternd und laut bis zum «Tünnel». Von hier fährt schliesslich die zweitälteste U-Bahn der Welt den Bummler in einer Fünf-Minuten-Fahrt durch den geplättelten Tunnel nach Karakoy? an den Fuss der Galata-Brücke.
In Istanbul gibt es genauso viele Taxis,, wie es Abfallsammler gibt. Aber Taxifahren bringt nichts. Die gelben Wagen bleiben im Verkehr der 13-Millionen-Stadt stecken. Die Strassen sind 24 Stunden am Tag verstopft. Man braucht also gute Schuhe, gute Füsse und viel Schnauf? Istanbul ist nämlich bergig. Ein ewiges Rauf und Runter. Mit Hunderten von schiefen Treppenstufen. Aber immer wieder ein kleines Café oder eine Teestube, wo man (auch ohne etwas zu konsumieren) verschnaufen kann.
ABER ICH WOLLTE EUCH JA DIE GESCHICHTE VON KENANS ELTERN ERZÄHLEN. Durin und Sabra sind blind. Kenan führt die beiden jeden Morgen zur grossen Geschäftsstrasse. Dort stellen sie sich neben der Tramstation auf. Durin spielt Flöte. Sabra stellt sich neben ihn. Und hält eine Kartonschachtel in ihren alten Händen.
Vier tote, weisse Augen stieren ins Leere? und doch spürt man in den Gesichtern der beiden ein Lächeln, eine Wärme... fast wie die ersten Frühlingssonnenstrahlen.
Die Lieder, die Kenans Vater auf der weissen Flöte spielt, gehen ins Herz. Sie sind nicht traurig. Eher zarte, fröhliche Vogelrufe. Die meisten Türken eilen vorbei? ohne aufzuhorchen oder gar stehen zu bleiben. Sie sind musikspielende Blinde in ihren Geschäftsstrassen gewohnt. Wer als Blinder kein Instrument kann, bietet auf einem Holzbrett Lose an. «Der Blinde sieht das Glück»? heisst ein türkisches Sprichwort. Also kauft man das Glück beim Lotterie-Verkäufer mit dem weissen Stock? oder besticht es mit zwei Lira-Münzen, die man in die Kartonschachtel der Frau des Flötenspielers wirft.
Eine erste, japanische Reisegruppe macht sich bemerkbar. Jeder hält mit einer kleinen Minikamera oder dem Handy die süssen Regenbogenfarben-Momente von Hafiz? Türkenhonigwolken fest. Der Türsteher gibt ihnen von den klebrigen Köstlichkeiten zu versuchen, zwickt von den funkelnden Lokumrollen Schnipsel ab. Die Japaner scheinen nicht entzückt. Einige spucken das Süsszeugs in ihre Papiertaschentücher.
Noch ist keine Touristensaison. Denn noch ist es kühl am Bosporus. Doch das beunruhigt hier keinen? jeder weiss: Istanbul boomt. Und spätestens im Mai sind die Hotels wieder überbucht. Und die Preise um ein paar Lira höher.
Ich will den Tag bei den kleinen Fisch- und Gemüseständen, die von der «Istiklal» rechts abgehen, starten. In diesem Gewusel von Marktbuden, Souvenirläden und Schuhputzern findet man kleine Restaurants, die bereits um zehn Uhr morgens ihre Grillöfen einheizen. Es schmeckt nach verbrannter Kohle, nach Lammfleisch und Knoblauch? die ersten Döner, glänzend wie frisch geknüpfte Seidenteppiche, drehen sich an ihren Spiessen wie Derwische in Zeitlupenaufnahme.
Jetzt spiegelt auch die Märzen-Sonne ihre Goldkugel auf den aufgeregten Wellen des Bosporus. Autos hupen nervös. Strassenhändler rufen ihre Ware aus. Und die zarten Frühlingstöne von Durins weisser Flöte verlieren sich ganz langsam im Alltag.
Von einem Morgen in Istanbul und dem Flötenspieler
Dienstag, 26. März 2013