Von der Waldweihnacht und dem unauffindbaren Baum...

Als da mein fiter Vetter Tom die Sache mit der Waldweihnacht in die Runde warf, waren alle begeistert.
ICH NICHT.
«NICHT MIT MIR!», gab ich den weihnachtlichen Tarif durch. Und war mir voll bewusst, dass der schwer wog? mindestens so schwer wie meine Päckchen. Denn ich bin der Einzige, der in dieser Weicheierfamilie, wo man sich gegenseitig Gutscheine und Geldcouverts zuschiebt, noch richtige Geschenke mit Glanzpapier und Schleife macht.
Tom wurde bissig. Wenn etwas nicht nach seinem Betonschädel geht, bekommt er den Ausdruck eines Schäferhundes, der den Pöstler sieht: «Jetzt krieg dich aber mal ein... jedes Jahr jammerst du uns die Birne voll, dass dir die Kocherei zu viel werde... dass wir zu viel Dreck machen würden und du drei Tage lang nur hinter uns aufräumst. WIR ERLÖSEN DICH VON ALL DEM BÖSEN!...»
Tom steigerte sich in eine Begeisterung, die er sich sonst nur in der Fitnesshalle beim Radeln auf dem sturen Stahlstuhl rankurbelt: «ICH organisiere alles...»
«Da sei Gott vor...», flüsterte Tante Nettchen. Und schlug das Kreuz.
Tom hat damals nämlich auch ihren 70. Geburtstag organisiert. Es sollte ein Gartenfest geben. Die belegten Brötchen sind dann im Sturm untergegangen? und noch wochenlang hat man auf dem Rasen die dünnen Absätze der Gratulantinnen wie Spargelstängel rausgezogen. Die herausgeputzten Freundinnen von Nettchen, die sich fürs Fest in Unkosten und Rüschen gestürzt hatten und diese Pumps trugen, die vorne so spitz wie das Kinn des Teufels und hinten so hoch wie der nichtgebaute Roche-Turm waren, sind kläglich im matschigen Letten stecken geblieben. Ins Haus durfte niemand, weil dort der Kleinhüninger Männerriege-Chor die Überraschung «an einem Bächlein helle...» probte. Draussen herrschte mittlerweile die Flut.
Und deshalb die Tante: «Da sei Gott vor!»
«Ja», sagte ich, «wir feiern wie immer daheim. Es gibt Küngel mit Nudeln...»
Daraufhin schauten die jüngeren Frauen einander vielsagend an, zogen die gezupften Brauen hoch und verkündeten spitz: «Wir sind für den Wald. Man kann doch einmal etwas Neues wagen? nicht immer diese ausgelutschte Tradition und...»
MEIN KANINCHEN MIT NUDELN IST EINE AUSGELUTSCHTE TRADITION!
«Jetzt sag auch einmal etwas!», stiess ich Innocent in die Rippen.
Bei meiner Familie hält er sich nämlich auch nach 40 Jahren noch vornehm zurück. Für ihn sind wir die Spezies aus einer ganz schrecklich wilden Exotenwelt. Er beobachtet uns mit diesem faszinierten Interesse, das die Betrachter im Zoo der Boa constricta hinter Panzerglas zukommen lassen.
«Ach, wenn die Jungen meinen...»
VERRÄTER!
Und wenn er dann vier Stunden unter den tropfenden Bäumen gestanden hat, läuft er wieder so bucklig rum, wie Quasimodo in der Kirche.
Schliesslich kippte auch Nettchen: «Vielleicht sollten wir den Kindern die Freude lassen...»
KINDER! Ihr Durchschnittsalter ist kurz vor der AHV und alle haben Paradentose!
Na ja, das Ende vom Weihnachtslied war dann ein Wagenconvoi, der beim Allschwilerwald parkierte? und eine ansehnliche Gruppe von gut wattierten Menschen, die mit Pudelmützen und gepfiffenem «Oh du Fröhliche» im Dunkeln der Bäume verschwanden.
Tom führte die Truppe an. Er hat darin Erfahrung. In seinem Fitnesstempel, den ich hier aus verbotenen Schleichwerbungsgründen nicht namentlich aufzeichnen kann, führt er auch immer eine Gruppe von enggedressten und stark transpirierenden Sportlern mit seinem stündigen Hoppe-Hoppe-Hopp-Programm zu Kalorienverlust und Konditionsgewinn.
Mit derselben muntern Falschheit, mit der er das Letzte aus den armen Bewegten rauspresst, verkündet er jetzt auch uns: «Ihr habts bald geschafft. Dort hinten ist der Baum. Und die Grillstelle...»
Tatsächlich hat Tom bereits in aller Herrgottsfrühe meine schönsten Kugeln abgeholt (auch die mit den Kläuschen auf den Schlitten und drei alte Schwänchen ohne Schwanz). Irgendwo in diesem weiten dunklen Wald hing diese Pracht nun an einer «lebendigen!» Tanne? wie er vielsagend verkündete.
Langsam öffneten sich die Schleusen von oben? und wir verstanden alle nur zu gut, weshalb Maria selbst in einem miesen Ställchen wohl war.
«Wir habens bald...» meinte Tom nach einer weitern halben Stunde etwas kläglich und versuchte im Schwarz des Waldes eine Tanne auszumachen, die mit Schwänchen geschmückt war.
«ICH HABS GEWUSST!»? zischte ich zu Innocent.
Der bekam einen Lachanfall: «Also deine Familie...»
Als wir nach zwei Stunden immer noch im strömenden Regen rumpflatschten, lachte er nicht mehr. Ganz langsam zog ihn das Rheuma zu Quasimodo zusammen.
Was soll ich noch lange erzählen: Zu Hause haben sie dann heisshungrig meinen gebeizten Küngel mit den Nudeln reingezogen. SO VIEL ZUM THEMA «AUSGELUTSCHTE TRADITION!»
Und irgendwo im Allschwilerwald steht ein Baum mit meinen Kläuschen und den schwanzlosen Schwänen dran...
Frohes Fest, alle zusammen!

Mittwoch, 24. Dezember 2008