Von der Urgrossmutter, die aus dem Rahmen fiel

Als kürzlich meine Urgrossmutter aus dem Rahmen fiel, war alles wieder da: ein beklemmendes Gefühl? die Erinnerung an ein blutrotes Nadelkissen? das Getuschel , das immer verstummte, wenn sie mit durchgestrecktem Rücken und energischem Schritt auftauchte? und die Familie, die vor ihr kuschte, wie der Pudel bei erhobenem Zeigefinger.
Bis zu jenem Tag hatte ich nie mehr an «die Chefin» (wie sie von Mutters Seite genannt wurde) gedacht. Ich hatte sie aus meinem Leben verdrängt ? die bösen Erinnerungen an dieses Stück Drachengeschichte hielt ich ein Leben lang unter Wasser ? wie eine Flussleiche, die zwar immer wieder auftauchen will. Deren Gesicht man aber nicht sehen möchte, weil es zum Albtraum wird.
Und dann kam die Nachricht vom Tod der «Zia».
Die Zia war die Cousine meiner Mutter gewesen. Und hatte ein Leben lang nur mit sich und dem Heilandvati (an dessen Seite sie nun wohl weilt) gelebt.
Mein Vetter Antonio schleppte mich in das alte Haus über dem Orta-See. Als Kind war es für mich ein Schloss ? jetzt einfach nur noch eine erbärmliche Hütte, die langsam zusammenfällt wie meine Hoffnung, einmal in einem richtigen Chateau einen Stall voller Diener herumjagen zu dürfen.
ALS WIR DA NUN DURCH DIE ZIMMER GINGEN UND UNS DER STAUB DER JAHRZEHNTE UNBARMHERZIG INS GESICHT BLIES, FIXIERTEN MICH PLÖTZLICH ZWEI GIFTIGE AUGEN. SIE GEHÖRTEN MEINER URGROSSMUTTER. SCHON FIEL «DIE CHEFIN» KRACHEND VON DER WAND. UND SOMIT AUS DEM RAHMEN.
Eigentlich hatte die «Chefin» mit diesem Schloss nichts zu tun. Und schon gar nichts am Hut: Ihre Tochter, meine Grosstante Elly, heiratete einen italienischen Grafen. Das tat man in den Kreisen ihrer Mutter nicht. Schon gar nicht einen «Vermouth-­Brauer» mit «Tschinggen-Pass».
Die Chefin setzte ihre Tochter also auf den Pflichtteil im Testament. Der Jungverliebten wars scheiss­egal. Sie kam auch ohne die Rente von «Aesch bi Gott» gut über die Runden. Der italienische Vermouth aus dem Adelhaus brachte gutes Geld ? und der Storch bald einmal Nachwuchs (eben die Tante, die nun beim Heilandvati ist).
Einst hatte der «Chefin» halb Aesch gehört. Friseurgeschäft. Zwei Beizen im Dorf. Der Bestattungsladen mit Wachsblumenkränzen.
Da sie dann ziemlich jung Witwe wurde, und die ewige Lust sie durchblies wie der Föhn das Kandertal im Oktober, suchte sie sich ihre Männer aus wie eine Castingshow den Superstar. Sie brauchte das (na ja eben: d a s!) Und so kaufte sie sich die Männer wie Stallbesitzer ihre besten Hengste. Ihre beiden Töchter (meine Grossmutter und Gross­tante Elly) protestierten. Sie versprühten Gift wie der Gärtner den Spray gegen Blattläuse. Nur ihr Sohn Sepp (mein Grossonkel) vergötterte seine Mutter, weil sie ihn mit Hunderternoten fütterte. Er brauchte diese, um sich die teuren Zigarren damit anzuzünden. Und «du wirst mal wie Onkel Sepp!» hat mir die Familie immer wieder gedroht, wenn ich mit dem Sackgeld über die Schnur haute.
Onkel Sepps Barschaft belief sich am Schluss seiner Jahre auf einem Niveau, das demjenigen einer schweizerischen Fernsehshow gleichkam: ZERO! Er nahm sich eine Hotelsuite am Genfersee und dort auch das Leben (nicht ohne vorher noch einen Kübel mit Champagner aufs Zimmer zu bestellen). In seinem Lederbeutel fanden sich nur noch zweimal zwanzig Centimes. Was blieb Elly und meiner Grossmutter anderes übrig, als Hotelzimmer, Champagner und Unkosten für die Umtriebe zu bezahlen und der Chefin einen erbitterten Brief zu schreiben: «Da hast dus nun. Das kommt davon!»
Die Chefin war mittlerweile auch blank. Sie hatte ihr ganzes Vermögen den Männern in den Arsch geschoben ? UND JETZT KÖNNT IHR EUCH JA MAL VORSTELLEN, WIE DA STETS EIFRIG GETUSCHELT WURDE. Nur mein Vater war voller Bewunderung für seiner Schwiegergrossmutter. Er nannte die Chefin eine «heisse Nummer». Und jetzt wisst ihr, weshalb meine Grossmutter in Gegenwart ihres Schwiegersohns stets Herzpillen schlucken musste.
Mit dem Restgeld, das der Chefin geblieben war, kaufte sie sich in ein Altersstift am Zürichsee ein. Genauer: in Rapperswil. Dort residierte sie in zwei Zimmern.
Ein einziges Mal nur hat meine Mutter ihren kleinen Sohn auf Hochglanz gekämmt. Und nach Rapperswil mitgenommen.
Eine alte, stolze Frau in bodenlangem schwarzem Rock kam dann auf mich zu. Sie hielt sich an einem Stock aufrecht ? einen Stock mit Silberknauf, den sie plötzlich auf mich richtete, als ich vor ihr einen Hofknicks machte: «Schafft diese kleine Tunte weg? DAS IST JA SCHRECKLICH, CHARLOTTE!»
Meine Mutter sagte kein Wort. Sie spuckte auf das Ölbild an der Wand, das «die Chefin» in Farbe zeigte. Und ging grusslos weg. Sie hat ihre Grossmutter nie wieder besucht.
Auf der Heimfahrt im Zug weinte Mutter. Ich streichelte ihre weisse, feine Hand, die in gehäkelten Garnhandschuhen steckte.
Als «die Chefin» zwei Jahre darauf starb und ihre beiden Zimmer am Zürichsee geräumt werden mussten, war da im magern Inventar auch ein rotes Nadelkissen aus Samt. Mit goldener Brokatbordüre.
Ich bewunderte das Kleinod und streichelte die harte, funkelnde Goldspitze: «War die Chefin eine Königin??»
«Sie war ein männerfressendes Stück Scheisse?», antwortete meine Grossmutter. Und gab mir eine Kopfnuss: «Kleine Buben sollten nicht mit Nadelkissen spielen?»
Schliesslich zeigte sie aufs Bild, das die Chefin mit den schmalen Lippen und den eisigen Kröten­augen zeigte: «Wer aus der Familie will so etwas an der Wand? Oder wollen wirs an eine Geisterbahn verschachern?»
Grossmutters Schwester Elly räusperte sich. «Ich nehme sie mit nach Italien. In allen Zimmern hängen die Ahnen der Isottas herum. Aber unsere Seite ist nirgends vertreten ? und immerhin war sie eine Häring aus Aesch!»
Zu Hause steckte mir Mutter ein Päckchen zu. Es war das purpursamtene Nadelkissen mit dem Goldrand: «Sag aber nichts zu der Oma!»
Und nun ? 60 Jahre später ? holten mich die Erinnerungen an meine Urgrossmutter doch noch ein. Sie lagen mit ihr am Boden. Um sie herum die zersplitterten Teile eines Rahmens, der die ganze Geschichte ein Leben lang zusammengehalten hatte.
«Das Bild ist gut?», kommentierte Innocent, der eben zur Türe hereinkam und meine Urgrossmutter auf dem Boden betrachtete, «starke Pinselführung. Und die morbide Stimmung in den Augen perfekt eingefangen. Wer ist die Alte??»
Einen Moment lang schauten Antonio und ich einander an. Dann zuckte mein Vetter die Schultern. «Wir wissen es nicht?»
Ich nahm die Ölschwarte, auf der noch irgendwo die Spucke meiner Mutter eingetrocknet war. Und legte «die Chefin» zu den Sachen für den Drittwelt-Basar?

Dienstag, 16. Juli 2013