Von der Suche nach Ragusa und dem Paten

Ragusa hat mich immer ­fasziniert. Ich meine: GIANDUJA-­STÄNGEL MIT GANZEN HASELNÜSSEN DRIN!
Und nun dies: Alberto macht mich auf Ragusa scharf: «In diesem sizilianischen Ort findest du die Szenerie, die sie für alle diese Montalbano-Filme ausleuchten. Fahre hin. Und geniesse. Ragusa ist eine Traumwelt. Alles war da: Normannen und Staufer, Araber und Griechen, Onassis und Frau Merkel ? jeder wollte ein Stück von Ragusa. Jetzt sind dort die Russen im Anmarsch ? sie sprechen schon von den Ragussen ?»
«Aha», sage ich. Und wage es nicht, nach den Schoko­stängeln zu fragen.
So tuckere ich also mit der süssen Heisslust auf Ragusa durch das Val di Noto. Immer im Schritttempo. Denn mehr lässt der Fiat 500 nicht raus.
Die Oberstadt ist dann eher enttäuschend. Ich meine: So sieht jedes Randquartier in Rom aus. Unschöne Betonbauten. Ein Gewimmel von Parabol-Schüsseln auf schrägen Balkonen. Und Supercenters, vor denen verwitterte Grossmütter die Bambini für 50 Cents drei Minuten lang auf Kunststoff-Elefanten reiten oder in Plastikkutschen schaukeln lassen. Dazu: ferngesteuertes Gedudel der elektronischen Unterhaltungswelt. Für klassische Ohren können da drei Minuten lange werden ?
HALLO! DAS KANN DOCH NICHT DAS KULTURELLE ERBE SEIN, FÜR DAS DIE UNESCO ­GELDER LOCKERMACHT!
Da mein Cinquecento aus dem Kühler dampft wie die heissen Quellen von Abano, halte ich am Strassenrand. Und erkundige mich bei den drei Alten, die sich vor der Gelateria eine Granita in den zahnlosen Mund reinzischen, nach dem Centro.
Die Granita ist hier übrigens Allzeitgemümmel ? man labbert sie bereits zum Frühstück. Und geht mit ihr nachts spät zu Bett. Es ist gefrorener ­Zitronensaft, den man mit viel Zucker gesüsst und schliesslich in kristalliner Form zu Götterschnee gestossen hat. KULINARISCH ­KÖSTLICHER WAHNSINN!
«Centro?» ? Die Männer schauen irritiert von ihren Gläsern mit dem Zitronensorbet auf: «Das ist das Centro! Sollen wir einen roten Teppich ­auslegen?» (Die Raguser sind für ihren speziellen Humor berühmt.)
«Aha. Und wo drehen die hier diese Montalbano-Filme mit der Kathedrale und Palmenallee?»
Schweigen. Nur das genüssliche Schlotzen ist nicht zu überhören. Schliesslich deutet einer der Zahnlosen mit genussvollem Schmatzer nach unten: «Das ist Ragusa Iblà. Nach der Brücke. Tief unten im Tal ? die Unterstadt.»
In seiner Art, «Unterstadt» zu sagen, steckte dieser leise Hochmut, den Grossbasler mitunter gegenüber dem Wort «Glaibasel» aufbringen.
Es kamen Haarnadelkurven der haarigsten Art. Dann eine 50 Meter lange Brücke. Und die führte über einen Steinbruch. Mitten auf der Brücke ­verschlägt es dir den Atem: Da ist ein Dörfchen an einen Hügel geklebt ? traumschön. So, als hätte der liebe Gott ein Märchenbuch in die Natur gezeichnet.
Ich erleide einen Kulturschock, atme tief durch und komme erst wieder auf diese Welt zurück, wie hinter mir eine Reihe von Autos in ein Hup­gebell ausbricht. Einer der hupenden Stänkerer kurbelt die Scheibe runter: «Bewege deinen Arsch, du Pfeife (scemo!) Wenn du nur gaffen willst, so roll deinen müden Arsch vor den Fern­seher!» (Wie gesagt: der spezielle Humor von Ragusanern.)
Vier Minuten später keucht der Fiat 500 zu diesem prächtigen Dom, der dem heiligen Giuseppe geweiht ist. Und der zu den schönsten Barock-­Gotteshäusern der Welt gehört. Vor dem Kirchenhaus führt eine Palmenstrasse zu den Stufen des Gebets. UND DIES ALLES SIEHT MAN IN DEN MONTALBANO-FILMEN IN EINER SEKUNDENSEQUENZ, BEVOR DER KOMMISSAR JEWEILS SEIN BÜRO VON VIGATA BETRITT. Das genügt aber, um Tausende von Touristen von der Mattscheibe weg hierher zu locken. Der Ort selber ist erblühte Tourismusidylle pur. An jedem Eckchen schaukeln Geranien. Und es blühen auch die ­Souvenirläden mit ihren Zwei-Euro-Angeboten an Eiskastenmagnetchen. Das meistgekaufte Sujet: «DER PATE» ? mit Marlon Brando. Dann: die sizilianische Zitrone.
«Unesco und Montalbano haben unsern Ort berühmt gemacht.» Lucia, die Caffè-Wirtin auf der Piazzetta, legt uns noch eine honigumwobene Mandel zur Granita: «Natürlich ist der Ort schon vorher bekannt gewesen. Aber nur bei Archäologen und Barock-Fans. Oder dann bei Geschichts­professoren. Immerhin sind wir schon 3000 Jahre vor Christus hier als Siedlung gestanden!» Lucia schaut nun kopfschüttelnd zu einer Gruppe von leicht übergewichtigen Damen mit Schenkeln, rot wie abgekochte Hummer. Ihre T-Shirts lassen viele Fragen über guten Geschmack, vor allem aber über den Bauch­nabel offen: «Irgendwie war es hier vor all dem Rummel noch gemütlicher ? Aber natürlich ­spülen uns die Besucher ein paar Euro in die ­Kassen. Und die können wir hier in Sizilien weiss Gott gut gebrauchen. Apropos ?» ? sie schiebt mir den Scontrino für die Granita zu.
«Ohne Quittung?», fragt Lucia. Räumt sie wieder weg. Und schiebt den bereits leicht vergilbten Scontrino später einem weiteren Granita-Lutscher zu. So wird der Umsatz nicht getippt. Und dem verhassten Fiskus in Rom ein Schnippchen geschlagen ? «DER PATE» lässt grüssen.
«Geh zu Mamma Rosa», hatte mir Roberto geraten. «Sie hat wunderbare ­Zimmer mit Blick auf die Kuppel von San Giorgio.»
Mamma Rosa ist eine Seele von Mensch ? die Bilderbuch-Sizilianerin mit ­teerschwarzem Haar und wasserblauen Augen: «Das Badezimmer müssen sie sich mit drei ­Touristinnen aus Kiew teilen», strahlt sie mich an. Und gibt gleich den Tarif durch. «20 Euro. Offiziell. Mit Quittung ? zehn dann unter der Hand. Einverstanden?»
Beim nächsten Souvenirgeschäft kaufte ich fünfzehn Mal Marlon Brando als Pate in Magnetform.

P. S.: Ragusa-Schokostängel habe ich nirgends gefunden.

Dienstag, 4. Juni 2013