Von der silbergrauen Perücke und Fasnachtsmoral

Die Perücke lag unter einem Berg von alten, ­verwitterten Larven.
«O GOTT!», sagte ich. Und zupfte sie sorgfältig hervor.
«O GOTT», haben damals auch meine ­Cliquen-Freunde gerufen. Und: «Also das kannst du gleich vergessen! Mit so etwas nehmen wir dich nicht mit!» Dann sagten sie das, was ich in meinem langen Fasnächtlerleben immer wieder hören musste. «DAS IST NICHT FASNACHT!»
Jerum!
Ich war damals zehnjährig. Und brauchte ein ­Morgestraich-Kostüm. Ich war wild auf Fasnacht. WEISSDERTEUFEL, WOHER DAS KAM! Von ­meinen Alten bestimmt nicht. Die waren sich in der Fasnachtsfrage einig. «DAS IST ETWAS FÜR TRANSVESTITEN UND MILITÄRKÖPFE ? UND SICHER NICHTS FÜR UNSERE FAMILIE!»
Dass ich trotzdem im «Goldenen Sternen» Pfeifer-Stunden nehmen durfte, verdankte ich meiner Grossmutter (die mir ein Piccolo schenkte). Und Vaters Sechsertram-Kontrolleur Ernst, der in der Lälli-Clique wunderbar Tiefstimme pfiff.
Dann kam Fasnacht. Und die Alten sollten für ein Kostüm blechen. Wo sonst die Meinungen ­auseinandergingen, herrschte auf einmal linienförmige Einstimmigkeit: «FÜR DIESEN MIST BEKOMMST DU KEINEN RAPPEN!»
Wieder sprang die Kembserweg-Omi ein. Sie putzte Überstunden. Und sie war die Einzige, an deren Grab ich später weinte.
Es war ein echter Schock, als ich vernehmen musste, dass ein richtiger Fasnächtler in einer anständigen Clique nicht mit dem Zugskostüm zum Morgestraich erscheint. Sondern sich einen Charivari aus alten Fetzen zusammenbastelt.
O.k. Dies mit den alten Fetzen war eine Not­lösung. Immerhin begann die Zeit zu boomen. Jeder verdiente gut. Und so leistete man sich gerne ein zweites Kostüm der traditionellen Linie: Waggis, Pierrot, Alte Tante?
ICH WÄRE SCHON DAMALS GERNE EINE ALTE TANTE GEWESEN! Aber das schafften die Putzknie der Omi nicht mehr. Also musste ich mir etwas einfallen lassen. Und aus dem Kleiderfundus der Familie ein Kostüm zusam­men­schustern.
Der Theaterrock meiner Mutter kam der «alten Tante» am nächsten. Zu jener Zeit liessen sich die Frauen auf die ­Theatersaison hin neue Fummel schneidern. Ein klassisches ­Chanel fürs Schauspiel. ­ Gerüschtes und Bodenlanges für die Oper. Ich war sehr fürs Gerüschte. Schnitt den wolkigen ­Seidenrock der lieben Mutter um 70 Zentimeter kürzer. Und die Ärmel weg. Von Tante Gertrude lieh ich mir die Spitzenhandschuhe aus. Und schnitt die Fingerkuppen ab, um bequemer auf dem Piccolo spielen zu können.
NA JA ? ES GAB EIN BEBEN UND SCHREIEN, WIE ICH ES SPÄTER NUR NOCH EINMAL FAMILIENINTERN ERLEBT HABE, ALS ONKEL ALPHONSE HEIMLICH DREI KISTEN MIT VELTLINER LEER GESOFFEN HATTE?
Ernst tröstete mich, indem er mir eine Waggislarve schenkte, die dahinblätterte wie ein Herbstwald. Ich malte ihr mit Mutters Lippenstift einen Kussmund und klebte falsche Wimpern über die Augen­löcher. Was mir noch fehlte, war das Haar.
Nun führte in unserm Quartier ein Perückenmacher und Maskenbildner sein Geschäft. Er hiess Schwald. Und ich konnte ­stundenlang vor seinem Schaufenster stehen, um mir vorzustellen, welche Falle ich wohl mit diesen langen Blondhaaren machen würde, wo doch meine Haare dieses beschissene Braun hatten. Überdies waren sie immer zu kurz geschnitten: Simpelfransen. Und Knapprasur, die meine ­Abstehohren wie zwei in die Luft gestreckte Kochkellen hervorhob!
Ich betrat also den Laden. Grossmutter Schwald war immer für einen halben ­Franken gut, wenn man ihr Kommissionen machte oder beim Techniker die frisch geschliffenen Zähne abholte.
Ich druckste also ein bisschen herum. Und fragte die gute Frau, ob sie aus ihrem Fundus vielleicht eine Perücke entbehren könnte ? ich würde dann dafür gerne ein Leben lang ihre Zähne unentgeltlich trans­­portieren?
Sie lachte, verschwand im hinteren Teil des Geschäfts. Und tauchte mit etwas auf, das wie ein flach gebügelter Silberpudel aussah. «Die Löckchen dreh ich dir noch schön?», schaute sie mich freundlich an. Und streckte mir die Perücke mit dem Grauhaar entgegen.
Als ich nun aber nervenfiebrig vor dem Vier-Uhr-Schlag beim «Goldenen Sternen» mit den frisch ondulierten Haarkringeln aufkreuzte, machten meine Cliquenfreunde auf schrill: «DAS IST NICHT FASNACHT! DAS IST JA PERVERS?»
O.k. Ich hätte ja auch lieber die ­aschblonde Langhaarperücke gehabt. ABER DAS WAR NOCH LANGE KEIN GRUND, GLEICH SO EIN THEATER LOSZULASSEN.
Nur meine starke erste Stimme rettete mich vor der Disqualifikation. Die Clique? alles pfeiferische Pfeifen ? wäre ohne mich ­verloren gewesen. Ich war damals wohl so etwas wie heute der kleine Immigranten-Fussballer, den der Junioren-Trainer auch nicht auf die Ersatzbank schicken kann. Vermutlich kapiere ich ­ deshalb Immigrationsprobleme heute besser als Politiker, die im Waggis herumtrommeln.
Nun ? ich habe an meinem ersten Morgestraich immer wieder den Spruch «Das isch nit ­Fasnacht!» gehört. Die Clique redete dann mit meinen Eltern ? und das nächste Kostüm wurde als ­ Weihnachtsgeschenk unter die Tanne gelegt: ein Harlekin. Billig. Aber nett.
Die Perücke kam zum Fasnachtsfundus, der sich mit den Jahren anstaute wie der Atomabfall in Sibirien. Als mich Annick nun nach ein paar Kostümen und Larven für ihre Enkel fragte, ­öffnete ich die Kästen mit den Fasnachtskleidern. Eine miefige Wolke von Naftalin und vertrocknetem Larvenlack schlug mir entgegen ? GANZ UNTEN LAG DIE PERÜCKE MIT DEN SILBRIGEN LOCKEN. Und mit ihr diese Geschichte.

Sonntag, 10. Februar 2013